Karoline und ihr Werk
Eine "kommunistische" Nonne
Es war in den Jahren der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet. Ein deutscher Journalist erkundigte sich in der deutschen Botschaft von Santiago de Chile nach Themen, über die er berichten könnte. "Wollen Sie eine kommunistische Nonne kennenlernen?" fragte ihn der Presse-Attaché. Als der Journalist neugierig wurde, bekam er die Adresse von Karoline Mayer. Er fand sie in einem der Armenviertel der Stadt.
Die Schwester aus dem bayerischen Eichstätt galt zu Pinochets Zeiten als "Marxistin", weil sie für soziale Gerechtigkeit gekämpft hatte und während der Regierungszeit Salvador Allendes den Sozialisten nahe gestanden war. Diese hatten in der Tat versucht, sie zum Eintritt in ihre Parteiei zu bewegen. Zur Belohnung sollte sie sogar die chilenische Staatsbürgerschaft bekommen. Doch sie hatte abgelehnt. "Ich sagte ihnen, es sei nicht meine Berufung, in eine Partei einzutreten", berichtete sie damals. Und sie erklärt mit einem Zitat aus dem Lukasevangelium, was damals wie heute ihr Anliegen war:
"...den Armen die frohe Botschaft, den Gefangenen Befreiung und den Blinden das Augenlicht zu verkünden und die Gequälten in die Freiheit zu entlassen" (Lk 4,18).
Mit dieser Mission war es Schwester Karoline seit Beginn der 70er Jahre gelungen, Tausenden von Menschen in den Armenvierteln Santiagos Brot, Kleidung, Arbeit, eine menschenwürdige Wohnung, Schutz vor Verfolgung, ärztliche Hilfe, eine Berufsausbildung und Hoffnung für die Zukunft zu geben.
Die Anfänge
1968 war Karoline Mayer als junge Steyler Missionarin nach Chile gekommen. Damals stellten die Christdemokraten unter Eduardo Frei die Regierung. Es herrschte eine Aufbruchstimmung in der chilenischen Gesellschaft.
Bis auf einen Teil der konservativen Oberschicht waren alle der Meinung, es müsse etwas geschehen, um den ungerechten Gegensatz zwischen Arm und Reich zu überbrücken und die Ausbeutung der Armen zu beenden.
Schwester Karolines Traum war es, Ärztin zu werden, aber ihr Orden war dagegen und so absolvierte sie an der Universität von Santiago ihr Studium zur Universitätskrankenschwester, einen Studiengang, den es in Deutschland so nicht gibt. Die Steyler Schwestern unterhielten mehrere Schulen und leiteten ein großes Krankenhaus in Santiago. Schwester Karoline aber zog es zu den Armen, zur untersten Schicht in der chilenischen Klassengesellschaft. Wer ihr angehörte, konnte sich weder Schulbildung noch eine Behandlung im Krankenhaus leisten.
Basisgemeinden
Wie die Armen die frohe Botschaft in ihrem Leben entdeckten. In den 70er-Jahren lernte Karoline einen französischen Missionar kennen, der sich in der gleichen Siedlung niedergelassen hatte und der mit den Leuten im kleinen Kreis das Evangelium zu lesen begann. Er nannte das "Basisgemeinde" und lud Schwester Karoline ein, daran teilzunehmen. "Er benutzte eine windschiefe Hütte", erzählt die Schwester, "drinnen ein paar Kisten und Stühle. Zehn, zwölf Menschen sitzen um einen Tisch, jeder hat ein kleines Evangelium in der Hand. Sie lesen eine Bibelstelle und lesen sie ein zweites Mal. Und dann denken sie darüber nach, was das mit ihnen, mit ihrem Leben zu tun hat. Und das Schöne ist, dass die Leute wirklich die frohe Botschaft in ihrem Leben entdecken. Das Gleichnis vom Unkraut im Acker sagt ihnen beispielsweise, du brauchst nicht unbedingt perfekt zu sein, aber steh zu deinem Unkraut und verstecke es nicht. Nach und nach wirst du sehen, wie der himmlische Vater dir hilft, es auszureißen."
Schwester Karoline folgt der Überzeugung, dass die Gemeinden groß genug sein müssen, damit gegenseitige Unterstützung möglich ist – und klein genug, damit sich alle persönlich kennen. In diesem Sinne sollen die Basisgemeinden als Jesusnachfolge eine Befreiungskraft von unten her bilden – ganz im Sinne der Befreiungstheologie, die sich in diesen Jahren von Brasilien aus zu verbreiten begann. Diese Theologe versteht sich als „Stimme der Armen“ und will zu ihrer Befreiung von Ausbeutung, Entrechtung und Unterdrückung beitragen.
Die „Comunidad de Jesús“
Schwester Karoline hat eine eigene Gemeinschaft gegründet, die "Comunidad de Jesús". Sie hat derzeit sieben Mitglieder (5 in Chile und 2 in Bolivien).
Den Putsch am 11. September erlebte Schwester Karoline aus der Distanz. Das Wissen um die Militärdiktatur konnte sie nicht davon abhalten zu „ihren Armen“ zurückzukehren, hatte sie doch versprochen sie nicht im Stich zu lassen. Wider aller Ratschläge und Wünsche ihrer Familie und langem innerlichen Ringen um den richtigen Weg. Dies führte zum endgültigen Bruch mit ihrem Orden und ihrem Austritt – beides war nicht vereinbar.
Zu Weihnachten des gleichen Jahres, nach der Rückkehr nach Chile, gründete sie mit ihrer Mitschwester Maruja die „Comunidad de Jesús“ (Gemeinschaft Jesu):
„Ihr wollt miteinander unseren Dienst an den Menschen in einer Gemeinschaft unter den Armen weiterführen“ besiegelte Pater Luis die neu entstandene Gemeinde. Auch Maruja, ausgebildete Erzieherin, entschied sich für diesen Weg, hatte sie mit Karoline angefangen erste Kindergärten in den Armenvierteln aufzubauen.
Die Stiftung Missio und die Villa Mercedes
Durch Karolines Leben in der Armensiedlung Angela Davis entstanden zwischen 1970 und 1976 immer mehr Dienste, darunter Kindertagesstätten und Polikliniken. Um diese Dienste vor der Auflösung durch das Militärregime zu bewahren, beantragte Schwester Karoline eine kirchliche Stiftung beim Kardinal Silva Henriquez von Santiago. So entstand 1977 die Stiftung Fundación Missio, mit dem Ziel den Menschen in den Armenvierteln eine „echte Hilfestellung zu geben“ und ihnen „zu einem menschenwürdigen Dasein“ zu verhelfen.
Mit der Möglichkeit als Stiftung europäische Hilfe zu beantragen, wuchs in dieser Zeit der Kontakt zu den „Freunden in Europa“. Die Deutschen, Luxemburger und Schweizer Freundeskreise bildeten sich in dieser Zeit.
Als größtes Projekt setzte sich die Stiftung Missio für den Bau der Villa Mercedes in der Stadtgemeinde Renca ein. 1985 schenkte Mercedes Echeñique, eine der alten chilenischen Aristokratie angehörenden Freundin der Stiftung, der Fundación ein 3,6 Hektar großes Grundstück in Renca, mit der Bitte den Ort „nachhaltig für Obdachlose anzulegen“. Der soziale Wohnungsbau kam 174 Familien zu Gute. In den Jahren nach dem Aufbau der Siedlung entstanden ein Kindergarten sowie eine Poliklinik in der Villa Mercedes. Die aus der chilenischen Oberschicht stammende Mercedes „brachte mich mit all den Menschen zusammen, mit denen sie verkehrte, um auch sie zu motivieren, sich den Armen zu nähern“, erzählt Schwester Karoline in ihrer Biographie aus dem Jahr 2006 („Das Geheimnis ist immer die Liebe“).
Schwester Karoline blieb bis 1988 Geschäftsführerin der Stiftung Missio. Einige der entstandenen Dienste werden ab 1990 in der neuen Stiftung Cristo Vive weitergeführt – so beispielsweise die Frauenwerkstätten und die Ausbildung im Handwerk.
Die Siedlung Angela Davis – soziale Ungleichheit in Chile
Als „Poblaciones“ bezeichnet man bis heute die Siedlungen der einkommensschwachen Bevölkerung in den Randvierteln Santiagos, die in der Regel aus inoffiziellen Landbesetzungen („tomas“) mehrerer Familien zwischen den 50er und 70er-Jahren hervorgegangen sind. Damals lebten die Bewohner („Pobladores“) in unzureichenden Wohnverhältnissen; meist auf sehr engen Raum in Holzhütten ohne sanitäre Anlagen.
Die Siedlung Angela Davis, benannt nach der US-amerikanischen Bürgerrechtlerin Angela Davis, entstand im Jahr 1972 in der heutigen Stadtkommune Recoleta. Die Siedlung war aus einer Landbesetzung von 1.700 Familien hervorgegangen, die 1972 von der Regierung legalisiert wurde. Nach ihrer Rückkehr nach Chile, zog Schwester Karoline in die Siedlung um sich der Arbeit mit den Pobladores zu widmen. 15 Jahre lang behandelte sie zunächst in ihrem kleinen Häuschen und danach in einer Poliklinik die Bewohner der Siedlung.
Seit den 70er Jahren hat sich der Entwicklungsstand der „Poblaciones“ stark verbessert. Zugang zu Strom-und Wassernetz gehören mittlerweile zum Standard in den Siedlungen. Nach Informationen des Ministeriums für Entwicklung und Soziales leben aktuell 20,7 % der „Pobladores“ in Armut (2014). Verglichen mit der Armutsrate von 11,5 % im Großraum Santiago, zeigt sich das fortwährende soziale Gefälle zwischen den reicheren Stadtkommunen und den Poblaciones.
Die ehemaligen Einrichtungen der Stiftung Missio und die heutigen Dienste der Fundación Cristo Vive haben sich die soziale Integration der Armensiedlungen zum Ziel gesetzt. Bis heute besteht der Kindergarten Naciente, der vor über 45 Jahren gemeinsam mit den Bewohnern der Siedlung aufgebaut wurde.
Die Siedlung Quinta Bella und die Gemeinschaft Cristo Vive
Nach einem Konflikt und ihrem Austritt aus der Fundación Missio, zog Schwester Karoline im Jahr 1989 in die sehr verarmte Siedlung Quinta Bella, mit dem Ziel dort eine christliche Basisgemeinde zu gründen. Das ehemalige Arbeiterviertel war in den 90er-Jahren, aufgrund des hohen Anteils an Kriminellen und Drogenabhängigen, als sehr verrufen.
Trotz anfänglichen Misstrauens ihr gegenüber, schaffte es Schwester Karoline gemeinsam mit den Bewohnern der Quinta Bella sowie der Unterstützung der europäischen Freundeskreise eine Kapelle sowie das heutige Gemeindezentrum zu bauen.
Schwester Karoline lag es vor allem am Herzen eine Begegnungsstätte für alle Menschen der Siedlung, besonders für die Jugendlichen, zu schaffen. So wurde schließlich die christliche Gemeinde Cristo Vive (zu deutsch: „Christus lebt“) gegründet. Die positiven Auswirkungen der neu gegründeten Gemeinde für das Viertel beschrieb sie in einem ihrer Rundbriefe aus dem Jahr 1991: „Ein Stück Reich Gottes ist durchgebrochen, sichtbar und greifbar. Von selbst fallen in die Augen die schönen Gebäude der Kirche und des Gemeindezentrums (...). Der blühende Garten mit den eifrig wachsenden Bäumen erfreut die Herzen der Vorübergehenden. Vor allem aber ist dieses Reich Gottes erfahrbar in der frohen, lebendigen Gemeinde, die gewachsen ist (...).“
Die Stiftung Cristo Vive
Nach Ende der Diktatur sah Schwester Karoline eine dringende Notwendigkeit den „vom ständigen Misstrauen untereinander“ und von „den Ängsten und Repressionen so erschöpften“ Menschen in den Poblaciones zu unterstützen. So beschloss sie ihrer Arbeit wieder „ein Dach“ zu geben und gründete 1990 mit Freunden aus der Fundación Missio die Fundación Cristo Vive Chile (Stiftung Christus lebt) als freie, unabhängige Stiftung privaten Rechts mit christlichen Werten und nach demokratischen Prinzipien. Mittlerweile arbeitet die Stiftung mit über 450 festen und rund 50 freiwilligen Mitarbeiter/innen in 21 Einrichtungen in Santiago.
„Ich habe mich immer als Brückenbauerin verstanden: zwischen Volk und Politikern, zwischen den verschiedenen Kirchen, Rassen, Ländern, Kontinenten, zwischen Nord und Süd. Vor allem aber zwischen Arm und Reich“, fasst die Schwester Karoline den Grundgedanken der Fundación Cristo Vive zusammen.
Als „Botschafterin der Armen“ vermittelt Schwester Karoline innerhalb der Stiftung Cristo Vive sowie zwischen den chilenischen Ministerien und der Bevölkerung. Über Jahre hinweg hat die Stiftung erreicht, dass aktuell rund 90 % der finanziellen Mittel der Fundación von verschiedenen Ministerien getragen werden. Die Differenz wird durch Spenden aus Europa und Chile finanziert.