Abschlussbericht von Antonia

Abschlussbericht von Antonia

Um mich herum das vertraute Chaos auf den Straßen, quietschende und verdallte Autos überall, Leute steigen in die Trufis ein und werden wieder ausgespuckt. Ich laufe an Essenständen mit langen Schlangen und an Cholitas auf dem Boden vorbei, die ihre Limetten verkaufen. Selbstbewusst überquere ich die Straße und laufe zum Salteña Stand gegenüber. Ich bin zum Mittagessen mit einer Freundin verabredet um zwölf – naja – la hora boliviana halt! Ich merke, ich habe mich angepasst, ich komme gut zu recht und es läuft einfach – ich bin richtig angekommen.

Schade nur, dass man genau dann, wenn an an diesen Punkt gelangt, wieder zurück nach Deutschland muss.

Ich werde es vermissen jeden Tag mit blauem Himmel aufzuwachen, mich in den Garten zu setzen um Tagebuch zu schreiben, zu malen und in der Sonne zu lesen. Ich werde unsere monatlichen Besuche im LIMA Sushi mit der WG vermissen und unsere lustigen Abende am Wohnzimmertisch. Ich werde es vermissen am Freitagabend in unseren Lieblingsclub „la Tirana“ zu gehen. Ich werde das „buenas tardes profe Antoniaaa“ im Apoyo und das gemeinsame Lachen mit Albina vermissen, wenn ein Baby mal wieder etwas tollpatschig unterwegs ist. Ich werde die Aussicht über Cocha vermissen. Ich werde es vermissen, in der Dämmerung zu meinem Tanztraining zu fahren und am Wochenende zu den Socials zu gehen. Habt ihr schonmal jemanden traurig Tanzen sehen? – Ich auch nicht! Und deshalb ist es einfach so schön! Es ist eine tolle Gemeinschaft in die man aufgenommen wird. Das Tanzen ist etwas, was verbindet, egal wo auf der Welt – auch in Deutschland. Deshalb ist meine Playlist für mich ein sehr wichtiger Teil meines Jahres. Musik weckt Erinnerungen und lässt einen zurück fühlen. Sobald ich also mal in Deutschland sitze und die Zeit in Bolivien vermisse, werde ich mir meine Playlist anhören. Sie ist zusammengestellt aus Liedern von Salsa und Bachata, folkloristischen Liedern, typische Lieder aus der Tirana, Cumbia, welche bei Festen mit den Tias lief und Lieder, die mir die Kinder im Apoyo gezeigt haben.

Ich habe viele verschiedene neue Menschen getroffen, eine Kultur miterleben können, wie es ohne FSJ nie möglich gewesen wäre und konnte mich selbst aber auch besser kennenlernen. Wie funktioniere ich in Wohngemeinschaften, wo brauche ich Zeit für mich, wo benötige ich Hilfe von anderen. Was stört mich an anderen, wo muss ich an mir selbst noch arbeiten. Was ist mir an Freundschaften wichtig, wo fühle ich mich in Freundschaften vielleicht eher ausgeschlossen und unverstanden. Ich bin selbständiger geworden. Ich fühle mich, als hätte ich etwas wichtiges gesehen, was die anderen nur aus den Geografie Büchern kennen. Die Wirklichkeit in der manche Menschen hier leben unterscheidet sich so krass von der, aus der wir in Deutschland kommen. Das kann sich jemand, der es in echt nicht gesehen hat, glaube ich gar nicht vorstellen. In Häusern ohne Wasser und Gas zu wohnen. Kinder, die auf der Straße für 1bs die Frontscheibe der Autos putzen. Menschen, die nicht mehr arbeiten dürfen, da sie nicht der bestimmten politischen Partei angehören. Frauen, die nie aus dem Schatten ihrer Männer springen können, … Wie privilegiert ich eigentlich bin, nur weil ich auf der anderen Seite der Welt geboren wurde, habe ich erst hier richtig gemerkt.

Trotz der vielen Schwierigkeiten, mit denen die Menschen hier leben, habe ich noch nie Leute mit so einer Lebensfreude, einer Leichtigkeit, total offen und immer nach vorne schauend getroffen. Mein erster Blick auf die Welt wurde nun um einen Zweiten erweitert. Anstatt nur mit dem einen, werde ich nun mit beiden zusammen auf die verschiedenen Dinge schauen und so in manchen Situationen wahrscheinlich anders handeln.

Gerade als jemand, der in Deutschland immer zu den Leuten gehört hat, die zu allem und jedem ja sagen, nur von einem Ort zum nächsten rennen und nie mal wirklich da sind, habe ich hier viel darüber lernen können, wie das Zusammenarbeiten in einer Gemeinde eigentlich funktionieren sollte. Hier in Tirani halten alle zusammen und es packen alle an. Wenn zum trabajo comunitario aufgerufen wird, stehen alle Eltern, auch am Wochenende beim Kindi um den Sandkasten wieder schön herzurichten. Jeder trägt dort etwas bei, wo er am besten helfen kann. Es bleibt nicht an einzelnen Personen hängen, die die Arbeit für die Gemeinschaft machen, währenddessen der andere Teil der „Gemeinschaft“ chillt. Gerade bei Vereinen fällt immer mehr auf, wie schwierig es wird sie noch am Leben zu halten, da das Ehrenamt bei uns ausstirbt. Schon allein beim Kuchenbacken scheitert es – so kann es finde ich eigentlich nicht weitergehen. Gemeinschaft sollte für Zusammenhalt und Unterstützung stehen, in der jeder seinen Teil beträgt. Wenn das so aber nicht funktioniert, leiden Menschen wie ich unter der „Gemeinde“. Ich muss in Deutschland lernen, auch mal nein zu sagen, gerade wenn ich unter dem ständigen ja sagen, selbst leiden muss. Wenn das andere können, kann ich das nämlich auch. Aber ich werde trotzdem auch versuchen, die Leute zum Ehrenamt und zur Unterstützung in der Gemeinde zu motivieren. Ich werde erzählen wie das in Bolivien funktioniert, denn wenn alle zusammen anpacken und jeder mit seinen Stärken hilft, ist es gerechter für alle und es macht dazu noch Spaß, zusammen etwas auf die Beine gestellt zu haben.

Der Mut eines Freiwilligen wird oft bestaunt, und es wird sich für die tolle Arbeit bedankt. Die wirklichen Helden sind für mich aber die Menschen, die uns hier in ihr Herz aufgenommen haben und uns immer willkommen geheißen haben. Sie führen uns in eine Kultur hinein und lassen uns Teil ihres Lebens werden, obwohl sie wissen, dass wir in einem Jahr wieder gehen werden. Es ist nicht einfach, einen wildfremden Menschen in seinen gewohntes und strukturiertes Umfeld aufzunehmen. Daher bin ich diejenige, die Danke sagen muss. Ich bedanke mich für die unvergessliche Zeit, die uns die Tias und die Profes geschenkt haben. Eine Zeit, in der ich so viel lernen durfte, und das fürs ganze Leben.

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