Quartalsbericht von Martha
Permiso ist das erste chilenische Wort, das ich lerne. “Permiso”, sagt die Frau am Flughafen, die sich mit ihrem Koffer an Elian und mir vorbeidrängt. “Permiso”, sagt der Mann, dem wir vor dem Tor unserer Seitenpassage im Weg stehen. Wir hieven unsere Koffer zur Seite, die all das enthalten, von dem wir beim Packen in Deutschland dachten, dass es uns in Santiago nutzen könnte.
Dazu zählten in meinem Fall anscheinend diverse Ladekabel, das Lieblingsbuch und eine sorgfältig ausgewählte, optisch ansprechende Garderobe, nicht aber der zugehörige Adapter, das Chilenisch-Wörterbuch oder gar Winterkleidung. Das Adapter-Problem lässt sich gleich am ersten Abend mit etwas Gewalt lösen, und auf dem Wochenmarkt, der sogenannten Feria, lernen wir bald unser zweites Chileno-Wort: Luca. Das ist umgangssprachlich und steht für tausend Pesos, wie wir der Zeichensprache des Verkäufers entnehmen können. Eingepackt in drei Langarmshirts, eine Leggins, eine Jeans und die Winterjacke, zu der mich meine Mutter überreden konnte, überreiche ich ihm vier Luca und enthalte im Gegenzug ein flauschiges Paar Hausschuhe, die ich bis zum Frühlingsanbruch zwischen September und Oktober nicht mehr ausziehe.
In der Zwischenzeit füllt sich das Haus Amistad mit Neuankömmlingen: einen Tag nach E.s und meiner gemeinsamen Ankunft am dreizehnten August bezieht Josefine das zweite Bett in meinem Zimmer, damit für die US-Amerikanerin Aarohi, die einige Tage später eintrifft, das dritte Zimmer bleibt. Als nach ungefähr drei Wochen B. hinzustößt, ist kein Bett mehr frei und wir teilen uns auf zwei Häuser auf: B., E. und A. ziehen in die fünf Minuten entfernte Casa Alberto, während J. und ich in Amistad bleiben und dort Anfang September die Studentin K. empfangen, die ein Praktikum in der von Teresa Winter geleiteten Obdachlosen-Residenz absolviert. Etwa zu diesem Zeitpunkt treten wir nach einem zweiwöchigen Spanischkurs unsere erste Arbeitswoche an. Die Sprachschule bringt mir zwar die Verwendung des subjuntivo etwas näher und verhilft uns zum ersten Austausch mit jungen Erwachsenen außerhalb der Wohngemeinschaft, erklärt aber nicht, warum im Chilenischen aus “Sí, los niños pequeños beben leche cada día” ohne Weiteres “Sípo, los más chicititos toman la lechesita cada día” wird.
Milchtrinkende Kleinkinder spielen seit Anfang September tatsächlich eine präsente Rolle in meinem Alltag, denn: ich habe mich für den Dienst in der Sala Cuna, der Kinderkrippe, entschieden. Verantwortlich dafür ist ein etwa eineinhalb-jähriger Junge der Sala Mayor A, der mich bei unserem ersten Besuch in den Einrichtungen zu sich rief, um mir aufgeregt brabbelnd einen völlig unspektakulären, ungeschmückten, weißen Fensterrahmen zu zeigen.
Meinen Dienst absolviere ich allerdings in der Sala Mayor B, deren Kinder ungefähr zwei Jahre alt sind und bereits entschieden “no” antworten, wenn man sie dazu auffordert, sich vor dem Rutschen hinzusetzen. In kürzester Zeit prägt sich mein Vokabel-Wortschatz innerhalb einer extrem spezifischen Nische deutlich aus. Mittlerweile weise ich mühelos darauf hin, dass Schaufeln nicht zum Sand essen gemacht sind, dass man seine Freunde weder schubsen noch beißen, schlagen, treten oder anspucken darf, und dass die Milchflasche nicht mit der Öffnung nach unten über das Bällebad gehalten werden sollte. Schwerer fällt mir noch, über mich selbst zu sprechen; über alltägliche Dinge, die Freizeit oder tiefgründige Gedanken, denn all das spielt sich noch zu großen Teilen im deutsch- und englischsprachigen Umfeld ab. Es ist komplizierter als gedacht, ins Gespräch mit chilenischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu kommen, und noch viel schwieriger, gemeinsame Themen zu finden. Außerhalb von Recoleta gelingt uns das schon deutlich besser, dennoch hoffe ich darauf, innerhalb der neun Monate, die mir noch bleiben, Bekanntschaften in dem Viertel zu machen, in dem ich lebe. In dieser Hinsicht sind wir zumindest recht erfolgreich, was unsere Nachbarn, einige Verkäufer auf der Feria oder das Sicherheitspersonal in unserem Stammsupermarkt angeht. Erste Kontakte zu Gleichaltrigen knüpfen wir insbesondere beim Sport, in meinem Fall beim Volleyballtraining im Estadio, einer beachtlich ausgestatteten Sportanlage, die den Anwohnern Recoletas das kostenlose Training verschiedenster Sportarten ermöglicht. Ebenfalls nutze ich von Zeit zu Zeit ein Angebot der Tanzschule Baila Salsa, bei der neben Bachata und Salsa der Austausch mit anderen Menschen im Vordergrund steht. Von Zeit zu Zeit besuche ich Buch- oder Bildungsmessen, lasse mich von den anderen zum Wandern überreden und versuche mich an neuen Rezepten – wenn man den typisch chilenischen Queso Fresco, eine Art schnittfesten Frischkäse, püriert und mit Joghurt und Sahne vermengt, lässt sich daraus ein makelloser Käsekuchen herstellen.
Es fehlt mir also an nichts. Ich bin mehr als zufrieden mit meiner Arbeit, in welche ich mich trotz Sprachbarriere nahtlos eingefunden habe. Das wird insbesondere durch die Souveränität der Tías ermöglicht, die den Tagesablauf routiniert und motiviert durchziehen. Mich beeindruckt, wie klar und liebevoll sie die Kinder anleiten, wobei stets darauf geachtet wird, ihnen genügend Raum zur eigenständigen Entfaltung zu geben. Ähnlich ist ihr Verhältnis zu mir zu beschreiben. Ich finde jederzeit Beschäftigung und bin so in den Ablauf eingegliedert, dass beinahe immer deutlich ist, an welcher Stelle ich wie unterstützen kann – weiß ich ausnahmsweise nicht Bescheid, genügt eine Nachfrage und die Tías helfen mir auf die Sprünge. Dabei habe ich sehr schnell gelernt, welche der Kinder spezielle Milch trinken, wie die Betten zum Mittagsschlaf zu beziehen sind und wann alle Tische und Stühle aus der Sala geräumt werden müssen, um die tägliche Reinigung des Raums und der Möbel zu ermöglichen. Bereits fünf der Kleinen sprechen mich mit meinem Namen an, und auch die, die ihn noch nicht aussprechen können, laufen morgens zur Begrüßung in meine Arme, präsentieren mir ihre Spielzeuge und sind beleidigt, wenn ich mich von anderen Spielkameraden an der Hand wegzerren lasse. Während der Wochenenden fehlt mir meine Gruppe sehr, zu meiner Verwunderung viel mehr als meine Heimat Ibbenbüren. Das Heimweh packt mich manchmal, wenn ich den Kindern zum Einschlafen ein Lied meiner Kindheit vorsumme, und wann immer eines der Zweijährigen zwischen Schluchzern nach seiner Mama ruft, würde ich am liebsten mitschreien.
Wenn ich aber nach der Arbeit in die Casa Amistad, in der Gruppe wegen des auffälligen Anstrichs des Wohnzimmers als “das grüne Haus” bekannt, zurückkehre, empfängt mich ein Gefühl von Zuhause. Nicht Heimat, aber Zuhause. Kaum anders fühlt es sich an, die Casa Alberto, das Haus mit der knallblauen Fassade zu betreten. J., E., B., A., K. und ich sind in so kurzer so eng geworden, dass wir längst unsere Klamotten untereinander tauschen, im Supermarkt nach dem greifen, von dem wir wissen, dass es die anderen gern essen und abends noch eine Stunde länger am Esstisch sitzen, obwohl wir längst müde sind – weil es gerade so schön ist.