Medizinische Grundversorgung, ein offenes Ohr und ein menschliches Miteinander
Schon an der Tür der kleinen Poliklinik in Renca schlägt einem eine große Portion schwäbische Fröhlichkeit entgegen. Schwester Elke begrüßt hier so Patientinnen und Patienten aus der Población Villa Mercedes. Zusammen mit einem Team aus einer Ärztin, einer Sozialarbeiterin und einer Dame für Fußpflege versorgt sie seit vielen Jahren die Menschen, denen der Weg in die staatlichen Gesundheitszentren verstellt ist.
Entstanden ist die Armensiedlung am Rande von Chiles Hauptstadt nach dem großen Erdbeben von 1985 vor der Küste des Landes. Viele Häuser in der Umgebung und in ganz Santiago waren zerstört, die Menschen obdachlos. Eine Versicherung gegen solche Naturereignisse gibt es in Chile nicht. Viel zu oft bebt hier die Erde und Geld für eine Versicherung haben die Menschen in Renca auch nicht. Eigentlich bedeutet Población Siedlung, aber in Chile beschreibt es das, was man in anderen Ländern Slum oder Farvela nennt: Ein Armenviertel, dass zumeist durch eine illegale Landnahme und ungeplant entstand. Um überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben, errichteten auch hier Familien auf der grünen Wiese erste Hütten. Unter dem Eindruck des Erdbebens und der daraus entstandenen Not schenkte Mercedes Echeñique, eine der alten chilenischen Aristokratie angehörenden Freundin der Stiftung, der Fundación ein 3,6 Hektar großes Grundstück in Renca, mit der Bitte den Ort „nachhaltig für Obdachlose anzulegen“. Der soziale Wohnungsbau kam 174 Familien zu Gute. In den Jahren nach dem Aufbau der Siedlung entstanden ein Kindergarten sowie eine Poliklinik in der Villa Mercedes. Die Häuser hatten einen kleinen Innenhof und eine erste rudimentäre Infrastruktur sorgt für eine Anbindung an die große Stadt.
Jedoch wurden die sozialen Probleme und die medizinische Grundversorgung nicht wirksam angegangen. Nicht in der Endphase der Diktatur und auch nicht in den vielen Jahren danach. So ist die Poliklinik bis heute die nicht in das staatliche Gesundheitssystem eingebunden, tausende Menschen lebten und leben ohne Gesundheitsversorgung. Als die Arbeit 1989 in der Poliklinik begann, gab es keine staatliche Gesundheitsversorgung in Chile. Daher machte sich im Auftrag der Fundación Cristo Vive der Arzt Dr. Robert mit einem kleinen Team auf, um nach Kräften die größte Not zu lindern. Sie errichteten aus Holz eine kleine Hütte und stellten so die medizinische Grundversorgung im Nordwesten der Hauptstadt sicher. Heute hat sich die Krankenversorgung im Land graduell verändert, sodass heute in Chile 80% der Bevölkerung im staatlichen Gesundheitssystem FONASA sind. Dieses ist allerdings chronisch unterfinanziert und überlastet. Dies trifft besonders die Siedlungen in den armen Stadtkommunen und in den Regionen Chiles.
In Deutschland suchte die examinierte Krankenschwester Elke zu diesem Zeitpunkt eine neue Herausforderung, wollte für ein Jahr mal etwas anderes machen. So kam sie als eine von vielen Freiwilligen zur Fundación Cristo Vive nach Chile. Das aus diesem Jahr der Auszeit ein halbes Leben werden würde, war weder geplant noch gewollt. Aber als eine Krankenschwester langfristig in der kleinen Poliklinik in Renca ausfiel, forderte Dr. Robert Elke als Aushilfe an. Dabei konnte Elke zu diesem Zeitpunkt nur wenig Spanisch. „Ich wurde ins kalte Wasser geschmissen.“ sagt die Krankenschwester rückblickend. Zunächst kamen nur wenige Patienten, doch mit der Zeit gewann das multikulturelle Team das Vertrauen der Bevölkerung. „Die Menschen wussten und wissen, dass wir sie als Persönlichkeiten akzeptieren und annehmen.“ Neben der medizinischen Grundversorgung gehört der intensive menschliche Kontakt, das Gespräch und das Zuhören zur täglichen Arbeit. Damals wie heute. 1990 war das freiwillige Jahr abgelaufen und Elke kehrte nach Deutschland und zu ihrer Mutter zurück, allerdings nur für fünf Monate. „Eigentlich habe ich schon mit dem Gedanken wieder zu kommen in Chile Abschied genommen.“ In Deutschland war viel zu bedenken und zu regeln. „Man muss sich schon klar sein, dass viele Sicherheiten dahin gehen, wenn man sich für diese Arbeit entscheidet. Aber ich bin hier mir Leib und Seele. Und ganz konkret wüsste ich auch nicht, was ich sonst machen sollte. Es ist einfach meine Aufgabe hier.“ Seit 25 Jahren ist Elke nun Teil der Población und Teil von Cristo Vive. Jeden Tag sorgt sie für die Erstversorgung, die Wundbehandlung und organisiert die Arbeitsabläufe. Drei mal in der Woche kommt eine Ärztin in die Behandlungsräume. „Dass wir helfen, spricht sich so schnell rum, da kann WhatsApp nicht mithalten. Die Menschen haben Vertrauen zu uns und unserer Arbeit gefasst, wir werden freundlich gegrüßt und fühlen uns hier sicher.“ Das ist in einem Gebiet mit hoher Kriminalitätsrate keineswegs selbstverständlich. Drogen, Gewalt und Prostitution bestimmen vielfach das Leben. Früher wurden vor allem Lösungsmittel geschnüffelt, aber diese Droge ist längst von der noch gefährlicheren Pasta Base verdrängt worden. Nachts sind Schüsse von rivalisierenden Banden zu hören, deren Gebietsgrenzen an den Mauern überall gut sichtbar markiert sind. Die Polizei ist kaum eine Hilfe. Schon gar nicht in der Nacht.
Drogen bestimmen das Leben vieler Menschen, sind allgegenwärtig. Natürlich auch bei den Patienten. Nicht wenige verwahrlosen, werden kriminell und versuchen, sich irgendwie die nächste kleine Tüte zu organisieren. „Ich kann ganz offen mit den Menschen reden, auch mal sagen: Aber Hallo, das nächste Mal gehst Du vorher duschen, auch wenn es nur mit kaltem Wasser ist!´ Zu einem Patienten habe ich neulich gesagt. `Du bist so ein toller Mensch, warum lässt Du die Drogen nicht sein?´ Da hat er mir geantwortet: ´Schwester Elke, ich würde die Droge ja gerne sein lassen, aber sie lässt mich nicht.´“ Es klingelt an der Tür, eine Patientin ist da. Außerhalb der Sprechstunden und die Ärztin kommt auch erst morgen wieder. Elke kann nicht helfen, außer mit einem Gespräch. „Wundversorgung von innen“, wie sie es nennt. Es stellt sich dann schnell heraus, dass das medizinische Problem bis zum nächsten Tag warten kann, die Zuwendung für heute Therapie genug war. Es ist ohnehin schwer, in Elkes Gegenwart schlechte Laune zu haben. Die Freude und Energie der Deutschen ist höchst ansteckend. Gerade für ältere Menschen der Gegend ist das Gespräch wichtig. Alt zu werden ist hier ohne Hilfe und funktionierende Sozialsysteme sehr beschwerlich. „Mich berührt es immer sehr, wenn ich ein Lächeln sehe. Wenn in einem Gespräch ein altes Gesicht auf einmal wieder hell wird. Das ist toll!“
Der alte Holzbau, dem die Termiten arg zugesetzt hatten ist gerade einem neuen, hellen Gebäude gewichen. Ausreichend groß, wenn auch sehr verwinkelt. Über 4.000 Patienten werden hier jedes Jahr behandelt. Für die Behandlung und die Medikamente, die in der eigenen kleinen Apotheke ausgegeben werden, müssen die Patienten einen kleinen Beitrag leisten. Ein Drittel der Kosten können so gedeckt werden, für die fehlenden zwei Drittel müssen Spenden gewonnen werden. Die Spenden kommen seit vielen, vielen Jahren von Cristo Vive Europa. Erst vor kurzem hat eine Großspende über $ 10.000 Dollar von einem Ärzteehepaar aus den USA die Existenz der Poliklinik gesichert. Eine große Summe mit einer noch größeren Wirkung: 1.400 Patienten können für diese Spende eine medizinische Behandlung bekommen. Elke und die Menschen in Renca sind auf so eine Hilfe angewiesen. Doch um ihre eigene Zukunft macht sich die deutsche Krankenschwester in Chile keine Sorgen. “Gott hat mich hierher gebracht. Deshalb wird er sich für meine Zukunft schon etwas einfallen lassen müssen,“ sagt sie und lacht eines ihrer unzähligen Lachen an diesem Tag.