Valentina Bone und die Frauenwerkstätten

Valentina Bone und die Frauenwerkstätten

ARPILLERAS: MIT STOFFRESTEN ZUR EMANZIPATION
Am 12. August ist nach kurzer schwerer Krankheit Valentina Bone im Beisein von Schwester Karoline in Santiago de Chile gestorben. Valentina war Kunstprofessorin und Initiatorin der Kunsthandwerkgruppen für Frauen bereits während der Zeit der Pinochet-Diktatur in den 70er- und 80er-Jahren.

Arpilleras, zu deutsch „Packtücher“ oder „Sackleinen“, sind bunte Stoffbilder nach indianischer Tradition, die Geschichten aus dem Leben der Frauen erzählen, die diese Bilder hergestellt haben. Sie zeigen ursprünglich Szenen von Not und Armut, von Angst vor Verfolgung und von Trauer über verschwundene Angehörige. Die ersten Arpilleras entstanden nach dem Putsch von 1973. Die Militärdiktatur brachte nicht nur Verfolgung und Unterdrückung, sondern durch ein neoliberales Wirtschaftssystem auch Massenarbeitslosigkeit und Hunger. Von den christlichen Basisgemeinden angeregt, organisierten sich Frauen aus den Armenvierteln in Gruppen, um zu stricken, zu nähen und zu sticken und die Produkte anschließend zu verkaufen. Das von Kardinal Raul Silva Enriquez ins Leben gerufene ökumenische Comité Pro Paz, das sich um die Opfer der Diktatur kümmerte, beauftragte die Kunstprofessorin Valentina Bone, Kunsthandwerkgruppen mit Frauen zu bilden.

Die erste Gruppe bestand aus Müttern, Ehefrauen und Schwestern von Verhafteten und Verschwundenen. „Nach meinem ersten Gespräch mit ihnen wurde mir klar, dass sie sich in ihrem derzeitigen Angstzustand auf nichts anderes als auf ihr eigenes Leid konzentrieren konnten“, berichtet Valentina Bone. „Auf dem Nachhauseweg spürte ich, wie ihre Verzweiflung in mich gedrungen war: Ich konnte kaum glauben, was ich gehört hatte Söhne, Ehemänner, Brüder wurden unter Schlägen und Bedrohungen aus ihren Häusern gezerrt, während ihre Familien ohnmächtig zusehen mussten. Schwangere Frauen, Ehepaare, sogar zusammen mit ihren Kindern, wurden verschleppt, alle für Wochen und sogar Monate verschwunden, ohne jegliche Nachricht weder von den Neugeborenen noch von den Kindern und erst recht nicht von den Erwachsenen.“

Alles, was die Professorin für die Arbeit mit diesen Frauen geplant hatte, war wertlos. Ihr wurde klar, dass das, was sie mit ihnen erarbeiten wollte, zur Aufarbeitung der traumatischen Erlebnisse dieser Frauen dienen musste. Und so begann jede einzelne ihre Geschichte auf Bilder zu sticken. Aber die Stickerei war zu langwierig und die Nerven der Frauen waren auch nicht in geeignetem Zustand für diese diffizile Arbeit. „Als ich schon nicht mehr wusste, wie ich weitermachen sollte“, erzählt Valentina Bone, „nach vielem Herumsuchen und Nachdenken, blieb meine Aufmerksamkeit an einer panamesischen ‚Mola’ hängen, einer Art Indio-Wandteppich. Außerdem kam mir eine in dem Moment sehr beliebte ausländische Mode, das Patchwork, in den Sinn.“ Nun begannen die Frauen, neue und gebrauchte Stoffreste, Fäden und Wolle, zu sammeln. Sie überlegten sich Themen für Bildergeschichten und machten sich an die Arbeit. So wurde aus einem oder mehreren Stücken Stoff ein echtes Zeugnis der Geschichte dieser Frauen. „Es war dramatisch, mit anzusehen, wie sie weinend ihre Geschichten stickten, aber es war gleichzeitig auch erfüllend, wie ihnen eben diese Aktivität doch Freude und Erleichterung brachte; Freude über ihre neuentdeckte Fähigkeit, ihr eigenes Zeugnis zu schaffen, Erleichterung schon allein aufgrund der Tatsache, sich zu treffen, sich miteinander zu unterhalten, zu nähen, etwas zeigen zu können, zu wissen, dass andere über die Bilderlektüre ihre Geschichte kennenlernen konnten.“

Einige Besucher und ausländische Journalisten sahen die Arbeiten und nahmen sie mit. Mehr und mehr Personen, alle bewegt von den Problemen der Frauen, kauften sie. So wurden die Arpilleras allmählich im Land selber, aber auch im Ausland bekannt und es entstand eine Nachfrage nach ihnen.

Valentina Bone arbeitete als nächstes mit Gruppen aus einem Arbeiterviertel, in dem die Menschen wegen der hohen Arbeitslosigkeit hungern mussten. In den Kirchen entstanden Speisestätten für Kinder, um der drohenden Unterernährung vorzubeugen. Die Mütter zogen jeden Morgen los, um Lebensmittel zu sammeln in den Geschäften, den Häusern, den Restaurants, auf den Märkten. Mit halb verfaultem Obst und Gemüse versuchten sie dann etwas zu kochen.

Die Frauen, die in diesem Viertel in die Kunsthandwerkgruppen kamen, hatten Angst, zusehen zu müssen, wie ihr Kind immer mehr abmagert und sich allmählich selbst aufbraucht. Sie hatten Angst, keine Mittel zu haben, um ins Krankenhaus zu gehen oder ein Medikament zu kaufen. Mit diesen Gruppen ging die Geschichte der Arpilleras weiter. Sie stellten in Stoffcollagen ihre Situation dar: riesige Kochtöpfe, große Tische, vollbesetzt mit Kindern und lange Schlangen von Müttern und Kindern, die geduldig warten, bis sie an die Reihe kommen. Ferner Mütter bei der Lebensmittelsammlung, Mütter beim Kochen, Mütter, die dampfende Teller servieren, wartende Mütter.

Die handwerkliche und künstlerische Qualität der Arpilleras war anfangs nicht sehr hoch. Dennoch kaufte die 1975 von der Erzdiözese Santiago gegründete Vicaría de la Solidaridad, die an die Stelle des vom Regime verbotenen Comité Pro Paz trat, einen Teil der Handarbeiten auf, um sie als Solidaritätsprodukte an das Ausland weiterzuleiten. Dort fanden sie anfangs auch Absatz, der aber nach einigen Jahren nachließ. 1979 baten die Frauengruppen deshalb die zwei Jahre zuvor gegründete „Fundación Missio“ um eine gezielte Hilfestellung. Organisatorin dieser kirchlichen Stiftung war Schwester Karoline Mayer. Schwester Karoline engagierte nun Valentina Bone, sowie eine Sozialarbeiterin und zwei Kunstlehrerinnen, um Frauen des Stadtviertels Conchali am nördlichen Rand von Santiago eine bessere handwerkliche Ausbildung zu verschaffen. Von den acht Wochenstunden sollten vier der handwerklichen Ausbildung dienen und die anderen vier der Ausbildung in Verwaltung, Buchhaltung und Rechnen. Nachdem aber die meisten Frauen nur eine unvollständige Schulausbildung hatten und 30 Prozent weder lesen noch schreiben konnten, mussten zuerst diese einfachen Grundkenntnisse vermittelt werden. Das war nicht einfach, weil viele Frauen sich zu alt zum Lernen fühlten. Außerdem hintertrieben die Ehemänner das Vorhaben. Sie hatten Angst, ihre Frauen würden ihnen gegenüber den Gehorsam verweigern, wenn sie nicht mehr so unwissend sind und ständig mit anderen Frauen zusammenkommen. Die Angst der Männer war berechtigt, denn die Frauen fingen an, selbstständiger zu werden. Mit Prügeln, Beschimpfungen und Drohungen versuchten die Männer, ihre Frauen von der Ausbildung fernzuhalten. Doch diese sprachen in der Gruppe über ihre Probleme und gaben sich gegenseitig Hilfestellung.

Ende 1980 gab es 15 Werkstätten mit insgesamt 180 Mitgliedern. Drei Gruppen haben sich auf Arpilleras spezialisiert. Die Qualität der Produkte wurde langsam besser. Die Teilnahme an Kunstausstellungen in Chile und Deutschland und der Gewinn des ersten Preises bei einem Wettbewerb für Wandteppiche motivierten die Frauen, sich weiter zu entwickeln. Berichte in Zeitschriften über die Originalität der Arpilleras machte sie stolz. Die behandelten Themen beschreibt Valentina Bone: „Die Konsequentesten sprachen über die Probleme in ihrer Población: Strom und Wassersperrung, Zwangsräumungen, die Latrinen und die dazugehörige Mückeninvasion, den Platzmangel und die Drogensucht. Die mehr Christlichen unter ihnen sprachen davon, wie der Glaube in den Poblaciones gelebt wird, wieviel Ähnlichkeit die Verfolgung der Israeliten durch den Pharao mit der heutigen Situation hat, wie sich die Christenverfolgung bis heute wiederholt, wie das Wort unseres Herren Jesus Christus zum subversiven Wort wird; sie sprachen von dem Glauben, der dazu zwingt, den Notleidendsten zu helfen, von diesem Glauben, der Hingabe fordert, von dem Glauben, der sich in der Liebe zu den Nächsten gründet.“ Das Ziel des Projekts, die Frauen zur Unabhängigkeit und zur Übernahme von Eigenverantwortung hinzuführen, ist weitgehend gelungen. 1983 gründeten die Frauen eine Art Genossenschaft und führten die „Werkstätten von Conchali“ fortan in eigener Regie.

1984 entstanden zehn neue Frauenwerkstätten für rund 200 Frauen im Zentrum von Santiago. Aus den Erfahrungen von Conchali heraus enthielt der Lehrplan neben der handwerklichen Ausbildung und der Organisations- und Verwaltungslehre auch eine Gruppentherapie, in der die Frauen ihre sozialen und persönlichen Probleme aufarbeiten konnten. Das gleiche Konzept lag auch den Frauenwerkstätten „Sol Naciente“ mit 60 Mitgliedern zu Grunde, die im gleichen Jahr am Rande von Conchali hinzu kamen. In ihrer schwierigen, teilweise aussichtslosen wirtschaftlichen Situation sollten die Frauen lernen, durch eigene Initiative, unterstützt durch eine intensive Ausbildung, neue Überlebensformen zu finden und ihre Persönlichkeit weiter zu entwickeln. Sie haben so ihre Rolle in Familie und Gesellschaft erkannt und gelernt, wie sie sich mit Problemen auseinandersetzen und diese in der Familie oder in ihrer Gruppe lösen können. So führte die kreative Arbeit mit Stoffresten schließlich zur Emanzipation der betroffenen Frauen.

Karl Grüner

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