Erfahrungen aus dem Apoyo Escolar / Centro Cultural “Rijch’ariy” in Tirani, Cochabamba (2019/2020)

Erfahrungen aus dem Apoyo Escolar / Centro Cultural “Rijch’ariy” in Tirani, Cochabamba (2019/2020)

Über mich:

Ich bin Elena, 25 Jahre alt und habe – anders als die meisten Freiwilligen, die als Schulabgänger ins Ausland gehen – bereits mein Studium (Bachelor+Master) im Fach Geographie an der Universität Erlangen-Nürnberg abgeschlossen. Nach meinem Master ging ich Mitte August 2019 nach Bolivien, um dort in den Diensten der Fundación Cristo Vive Europa in Tirani/Cochabamba mitzuarbeiten. Ich war „Selbstzahler“, hatte also keine weltwärts-Förderung und Entsendeorganisation in dem Sinne; der Aufenthalt wurde mir aber von Sr. Karoline Mayer persönlich ermöglicht und maßgeblich von Cristo Vive Europa unterstützt und mitorganisiert. Karoline kenne ich persönlich, da ich aus Eichstätt komme – praktisch ihrer Heimatstadt. In Tirani (oberhalb von Cochabamba gelegen) hatte ich denselben Arbeitsalltag wie alle anderen, „offiziellen“ Freiwilligen und wurde gleichermaßen von den Mitarbeitern der Fundación Cristo Vive Bolivia vor Ort betreut. Mein Aufenthalt umfasste letztendlich 7,5 Monate, da ich aufgrund der Coronapandemie Ende März 2020 gezwungen war, den Freiwilligendienst abzubrechen und im Rahmen des Rückholprogramms der deutschen Bundesregierung zurück nach Deutschland zu fliegen.

Der Arbeitsalltag im Apoyo 2019/2020

In den 7,5 Monaten von August 2019 bis März 2020 waren wir drei Freiwillige in Tirani: Alissa (damals 19 Jahre) aus Luxemburg (Organisation: Niños de la Tierra), Rafael (damals 18 Jahre), zufälligerweise ebenfalls aus Eichstätt (Organisation: Cristo Vive Europa-Partner Lateinamerikas e.V.), und ich. Wir arbeiteten vormittags von 8:00 bis 13:00 Uhr im Kindergarten und nachmittags von 14:00 bis 17:00 Uhr, bzw. ab Februar 2020 bis 17:30 Uhr, im Apoyo Escolar. Als wir im August 2019 unsere Tätigkeit im Apoyo aufnahmen, besuchten diesen regelmäßig ca. 60 Schulkinder und Jugendliche; obwohl es zum Schuljahres-/Jahreswechsel einige Neuzugänge und Abgänge gab, änderte sich die Gesamtzahl nie wirklich. Aktuell (Stand Januar 2021) sind weiterhin etwas mehr als 60 Kinder und Jugendliche eingeschrieben. Während meiner Anwesenheit gab es drei „salas“ (Gruppen) - Sala 1 mit den Jüngsten (ca. 5-8 Jahre), Sala 2 mit den Mittleren (ca. 8-12 Jahre) und Sala 3 mit den Ältesten (ca. 12-17 Jahre) -, die jeweils von einer Educatora (Jhanet, Miriam und Deysi) beaufsichtigt wurden. Jede(r) Freiwillige war einer Sala fest zugeteilt; ich selbst war in Sala 3 bei den Ältesten. Jede Sala besitzt im Apoyo einen eigenen Raum zum Arbeiten; daneben gibt es, für die Kinder zugänglich, noch eine Ludoteca (Spielzimmer), eine Biblioteca und einen leeren Raum, in dem früher eine vierte Sala untergebracht war. Draußen befindet sich die „canchita“, ein kleiner Hartplatz mit Fußballtor und Basketballkorb, und der Spielplatz des Kindergartens.

An einem normalen Arbeitstag im Apoyo (wovon wir leider nicht allzu viele erlebten) wurden zunächst zwei Stunden mit den Kindern Hausaufgaben oder Übungen gemacht, danach blieb eine Stunde, die die Kinder – soweit sie ihre Aufgaben erledigt hatten – entweder frei zum Spielen auf der Cancha, dem Spielplatz oder in der Ludoteca zur Verfügung hatten, oder in der – je nach Wochentag – diverse Aktivitäten auf der Agenda standen. Zu diesen Aktivitäten gehörten beispielsweise das Schauen eines Films (es gab einen tragbaren Fernseher), Tanzen (immer donnerstags), Lernspiele, durch die auch Verhaltensregeln vermittelt wurden (immer freitags) oder Englischunterricht (wäre für 2020 geplant gewesen). Die Educatoras waren stets sehr darum bemüht, den Kindern „etwas zu bieten“, daher engagierten sie Lehrer oder Studenten der Universität in Cochabamba, die den Kindern einmal wöchentlich diverse Kurse anboten. In der Vergangenheit waren hier oft auch die Freiwilligen miteingebunden und konnten im zweiten Halbjahr ihres Aufenthalts z.B. Musik- oder Sportkurse geben. Leider war uns, den „Corona-Freiwilligen“, dies aufgrund des frühzeitigen Abbruchs unseres Freiwilligendiensts nicht mehr möglich. Manchmal wurden die Kinder auch sala-weise Patricia, der Agronomin der Fundación Cristo Vive Bolivia, zugeteilt, um ihr beim Pflegen des Projektgeländes und des Gemüsegartens zu helfen.

Bevor die Kinder um 17:00 bzw. 17:30 Uhr nach Hause gingen, bekamen sie etwas zu Essen ausgeteilt. Dabei handelte es sich entweder um die Reste des Mittagessens aus dem Kindergarten nebenan oder um „Snacks“, wie z.B. „pipoca“ (Popcorn), „tawa tawas“ oder „buñuelos“ (frittiertes Gebäck) mit Api, Tee oder einem Erfrischungsgetränk. Pro Woche war eine Educatora neben der Betreuung ihrer Sala für das Essen zuständig, soweit aus dem Kindergarten nicht genügend Reste zur Verfügung standen. Gekocht wurde in der leerstehenden Sala und mit einfachsten Zutaten, die von den verfügbaren Spendengeldern möglichst billig auf dem Markt gekauft wurden. Wir Freiwilligen begleiteten die Educatoras einmal mit auf den Markt, um beim Einkauf und Transport von Mehl, Maismehl, Salz, Zucker und Töpfen zu helfen. Jedes Gramm musste aufwändig verhandelt werden, um die verfügbaren finanziellen Mittel nicht zu überschreiten.

Besondere Aktivitäten und Ereignisse im Apoyo

Feiertage sind in Bolivien generell von immenser Bedeutung. Auch den Educatoras war es wichtig, Fest- und Feiertage im Apoyo zu berücksichtigen und sie auf besondere Art zu feiern. Zu den wichtigsten Feiertagen während meines Freiwilligendienstes gehörten Allerheiligen und Weihnachten.

Allerheiligen („Todos Santos“) selbst wird traditionell zuhause in den Familien gefeiert. Wer in den letzten drei Jahren einen Toten zu beklagen hatte, widmet diesem einen Tisch („Mast’aku“), reichlich gedeckt mit Fotos, Blumen, spirituellen Symbolen sowie Speisen und Getränken, die der Verstorbene gern gemocht hatte. Der Nachmittag und Abend werden in Gedenken an den Verstorbenen verbracht, und Familienangehörige, Bekannte und Dorfbewohner werden empfangen, um den Angehörigen Gesellschaft zu leisten und für den Verstorbenen zu beten. Als Dank bekommen die Gäste etwas zu Essen und/oder ein sogenanntes „T‘antawawa“ als Wegzehrung, ein relativ hartes, süßliches Brot in Form eines Kindes, welches den Verstorbenen repräsentieren soll. Am Tag vor Allerheiligen buken wir, die Freiwilligen, zusammen mit den Apoyo-Kindern, Educatoras und Lucy, der Nachbarin und ehemaligen Köchin des Kindergartens, unzählige T‘antawawas in der „panadería“ des Kindergartens. Die Kinder hatten einen riesigen Spaß dabei, den Teig zu formen und ihre persönlichen Muster zu entwerfen. Am Ende des Tages durften sie die gebackenen T‘antawawas mit nach Hause nehmen, um sie entweder selbst zu essen oder im Sinne von „Todos Santos“ an Angehörige zu verschenken.

In den drei Wochen vor Weihnachten werden traditionell Hausbesuche bei den Familien der Apoyo-Kinder gemacht. Dafür studierten wir im Vorhinein mit den Kindern christliche Weihnachtslieder ein, die sie mit einfachen Instrumenten wie Schellen oder Trommeln begleiteten. Pro Tag besuchten wir zwischen dem 5. und 20. Dezember 1–3 Familien im Dorf. Die Familien stellten der gesamten Gruppe an Kindern, Educatoras und Freiwilligen eine Kleinigkeit zu Essen (meistens Kekse oder Wackelpudding) und zu Trinken (meistens Coca Cola) bereit und wurden im Gegenzug mit dem Gesang der Kinder, schönen Versen und guten Wünschen für das nächste Jahr beglückt. Uns Freiwilligen bot dieses Event zum ersten Mal die Möglichkeit, die Kinder persönlicher kennenzulernen und zu sehen, wo, wie und mit wem sie leben. Es war teilweise erschreckend, zusammengedrängt in deren Häusern zu stehen und die einfachen Bedingungen wahrzunehmen, in denen manche Familien in Tirani Tag für Tag leben: Kleine Häuschen oder Hütten für (zu) viele Bewohner, oft aus Stein oder schlecht verputzten Ziegeln errichtet, die Fenster manchmal ohne Fensterglas, die Türbögen oft nur mit Tüchern verhangen, schlechter Schutz gegen Wind und Regen. Trotzdem freuten sich alle, als wir kamen, und bewirteten uns als Gäste in ihrem bescheidenen Heim. Das war sehr schön. Neben den Familien besuchten wir mit den Kindern auch unser Freiwilligenhaus und das Zentralbüro der Fundación Cristo Vive Bolivia im Stadtzentrum von Cochabamba.

Einige weitere Feste und Aktivitäten im Apoyo sind mir besonders in Erinnerung geblieben: An einem Tag wanderten wir zum Fluss in Tirani, damit die Kinder dort baden konnten. Da der Fluss jedoch nicht genügend Wasser führte, lieferten wir uns stattdessen eine Wasserschlacht an den Bewässerungskanälen im Dorf. Das hat allen – auch uns Freiwilligen und den Educatoras – sehr viel Spaß gemacht. An einem anderen Tag gingen wir zusammen in die „Casa Blanca“, das „Freibad“ Tiranis. Dort gibt es ein Schwimmbecken, Umkleidekabinen und große Rasenflächen. Für viele Kinder ist der Eintritt in die Casa Blanca normalerweise zu teuer, der Apoyo bekam an diesem Tag jedoch einen Sonderpreis, sodass alle Kinder für nur wenige Bolivianos hineinkonnten. Viele Kinder können nicht schwimmen, deshalb zeigten wir es ihnen oder trugen sie durchs Wasser. Anschließend kam Lucy mit einer Reihe an Töpfen und Schüsseln und versorgte alle mit einem Festmahl aus Chorizos, Kartoffeln, Gemüse und „llajwa de mani“ (scharte Erdnusssauce). Zum 14. Geburtstag des Apoyos wurde außerdem ein Fest gefeiert, bei dem die Kinder reichlich Essen (von Lucy) und Kuchen (von uns Freiwilligen) bekamen. All diese Feste zauberten den Kindern immer ein Lächeln ins Gesicht und ließ sie richtig aufblühen. An solchen Tagen waren sie sichtbar glücklich und ausgelassen. Zutaten für derartige Aktionen oder Feste wurden aus Spendengeldern bezahlt und mussten daher im Vorhinein gut geplant und kalkuliert werden.

Wie die Kinder meiner Meinung nach den Apoyo wahrnehmen

Meiner persönlichen Wahrnehmung und Beobachtung nach sind die Kinder und Jugendlichen immer sehr gerne in den Apoyo gekommen. Für sie war der Apoyo, abgesehen von der schulischen Unterstützung, die sie dort bekamen (und die in diesem Alter für die meisten ja nicht unbedingt die oberste Priorität hat), ein Ort, an dem sie Kinder bzw. Jugendliche sein konnten und an dem sie spielen und sich „auspowern“ konnten – das war ihnen zuhause oft verwehrt. Viele der Familien, deren Kinder in den Apoyo kommen, haben finanzielle Probleme; zudem spielt Alkohol und/oder häusliche Gewalt häufig eine große Rolle. Nicht selten haben Kinder im Apoyo geweint, weil sie schlechte Noten bekommen und Angst vor den Schlägen zuhause hatten. Manchmal konnten Kinder nicht kommen, weil sie zuhause oder in der Stadt arbeiten mussten, um Geld zu verdienen. Manche Kinder kamen auch mit Verletzungen oder blauen Flecken in den Apoyo. Die Educatoras und auch wir Freiwilligen – soweit es uns möglich war – schenkten ihnen ein offenes Ohr, hörten ihnen zu, wenn sie von sich aus von ihren Problemen und Ängsten erzählten, und versuchten, auch das Vertrauen der Schweigsameren zu gewinnen, indem wir uns immer wieder nach ihrer familiären und schulischen Situation erkundigten, sie trösteten und in den Arm nahmen. Für einige war der Apoyo möglicherweise der einzige Ort, an dem sie in den Arm genommen wurden. Der wichtigste Aspekt im Apoyo war meiner Meinung nach somit nicht unbedingt der schulische, sondern der soziale und der emotionale. Ich glaube, vielen Kindern tut es sehr gut, dass ihnen im Apoyo jemand seine Zeit schenkt und ihnen zuhört.

Comedor-Kinder

Aufgrund der finanziellen Probleme vieler Familien in Tirani hat die Fundación Cristo Vive Bolivia in Zusammenarbeit mit dem Gemeindevorstand in Tirani einen „comedor“ ins Leben gerufen, in dem die Apoyo-Kinder nach der Schule für wenig Geld Mittag essen können, bevor sie um 14:00 Uhr in den Apoyo kommen. Mit der Wahl eines neuen Gemeindevorstands 2020 fielen etliche finanzielle Zuwendungen aus, weshalb im Februar 2020 der Comedor von Lucy, der Nachbarin und ehemaligen Köchin des Kindergartens (s.o.), übernommen wurde. Die Kinder bekommen dort jeden Tag (Montag bis Freitag) ein reichhaltiges „Menü“ aus Suppe, Hauptgericht und Getränk. Monatlich kostet das pro Kind etwa 100 Bolivianos (5 Bolivianos pro Tag), d.h. umgerechnet etwa 13 € (65 Cent pro Tag). Manche Familien können sich aber nicht einmal das leisten. Besonders schlimm betroffene Familien werden von der Fundación finanziell unterstützt; zudem wurde die monatliche Rate für den Comedor schon manchmal von Freiwilligen übernommen. Diesem Beispiel folgend übernahmen meine Mitfreiwillige, Alissa, und ich, unterstützt von unseren Familien in Luxemburg und Deutschland, die monatliche Bezahlung des Comedors für fünf Kinder aus dem Apoyo. Drei der Kinder – die Geschwister Lucas, Isác und Estefani, 17, 12 und 10 Jahre alt, alle sehr ruhig, freundlich und liebenswürdig – leben in einer winzigen Hütte und haben vor wenigen Jahren ihren Vater verloren. Zur Zeit unseres Freiwilligendienstes erkrankte auch ihre Mutter schwer und konnte nicht mehr arbeiten. Dies bedeutete für die Familie schlichtweg: kein Geld, um Essen und Medikamente zu kaufen. Viele solcher traurigen Einzelschicksale erfuhren wir Freiwilligen erst einige Monate nach unserer Ankunft, und uns wurde dadurch immer mehr klar, was der Apoyo und die Unterstützung durch Spenden für jedes einzelne Kind bedeuten und bewirken kann. Leider konnten wir die monatliche Unterstützung für die fünf Kinder nach unserer Abreise im März 2020 nicht fortführen, weil einerseits der Comedor aufgrund der Coronapandemie zunächst bis auf weiteres geschlossen wurde und andererseits die monatliche Überweisung von Geld aus dem Ausland sehr teuer ist. Falls der Apoyo und der Comedor im Jahr 2021 wieder regelmäßig stattfinden können, werden wir uns aber darum bemühen, die monatliche Rate evtl. über die ehemalige Freiwillige Leonie, die aus Kappeln stammt, zu den jeweiligen Familien nach Tirani zu bringen.

Apoyo während der Bloqueos 2019 und der Coronapandemie 2020

Die Zeit, in der ich meinen Freiwilligendienst in Bolivien absolvierte, verlief, verglichen mit den Vorjahren, eher anormal als normal. Während in den ersten 2,5 Monaten alles „wie immer“ war, musste der Apoyo in der Zeit von November 2019 bis zu meinem Rückflug Ende März 2020 dreimal für mehrere Wochen vollständig geschlossen werden. Wir hatten daher seit November nur noch unregelmäßig Kontakt zu den Kindern.

Nach den Präsidentschaftswahlen am 25. Oktober 2019 gab es aufgrund von Wahlbetrugsvorwürfen gegen den angeblich wiedergewählten Präsidenten Evo Morales starke politische Unruhen im gesamten Land, die bis zu Evo Morales‘ Rücktritt am 10. November andauerten und in Cochabamba aufgrund der starken politischen Polarisierung der Bevölkerung besonders heftig ausfielen. In der ersten Woche dieser Proteste fand der Apoyo noch regelmäßig statt, da sich die Unruhen auf das Stadtzentrum, die großen Zufahrtsstraßen und den Süden der Stadt konzentrierten. Auch Allerheiligen konnte noch „normal“ gefeiert werden. Danach musste der Apoyo jedoch aufgrund der unsicheren Lage für 2 Wochen komplett geschlossen werden. Auch die Schulen waren eine Zeit lang geschlossen, und der öffentliche Transport war aufgrund der „bloqueos“ (Straßensperren durch die Protestierenden) weitgehend lahmgelegt, sodass die Educatoras auch nicht nach Tirani kommen konnten. Bevor der Apoyo-Betrieb nach den Unruhen Mitte November für ca.3 Wochen bis Weihnachten wiederaufgenommen werden konnte, sprachen wir Freiwilligen uns mit den Educatoras ab, um zu planen, wie die schulischen Defizite der Kinder möglichst schnell aufgeholt und wie die Kinder bis Weihnachten möglichst intensiv betreut und zum Lernen motiviert werden könnten. Auch die Diskussion der politischen Vorfälle spielte eine wichtige Rolle bei der Wiederaufnahme der Aktivitäten. Da die Schulen den Kindern den Großteil ihrer Prüfungen erließen oder diese verschoben, hatte glücklicherweise kein Kind durch die „Lernpause“ einen unmittelbaren Nachteil.

Von Weihnachten bis Mitte Februar 2020 war der Apoyo im Rahmen der alljährigen Sommerpause planmäßig geschlossen. Danach wurde der Betrieb wiederaufgenommen, die Kinder kamen zurück, die Educatoras und Freiwilligen hatten sich vorher zusammengesetzt, Neuerungen eingeführt und viele tolle Aktivitäten für das Jahr 2020 geplant. Im März, als sich die Coronapandemie in Europa auf ihrem damaligen Höchststand befand, erreichte das Virus schließlich verspätet auch Bolivien. Mitte März beschloss die Interimsregierung um Janine Añez zunächst eine teilweise, kurz darauf dann eine totale, landesweite Ausgangssperre. Diese fiel um einiges drastischer aus als in Deutschland: Aus dem Haus durfte zunächst niemand, zu keiner Uhrzeit; einmal pro Woche war es einer volljährigen Person pro Haushalt erlaubt, das Haus in einem bestimmten Zeitintervall zu verlassen, um Einkäufe zu tätigen oder wichtige Besorgungen (Bank, Amt etc.) zu erledigen. Die Zuteilung der Wochentage erfolgte dabei nach der Endnummer des „carnets“ (Personalausweis). Es galt eine Maskenpflicht im gesamten öffentlichen Raum, der öffentliche Verkehr wurde vollständig ausgesetzt, Privatfahrzeuge durften nur mit spezieller Erlaubnis verkehren. Flüge von/nach Europa wurden gestrichen; letzteres betraf schließlich auch jeglichen Personentransport innerhalb des Kontinents und des Landes. Obwohl es zu dieser Zeit nur sehr wenige bestätigte Infektionsfälle in Bolivien gab (etwa 10 Fälle – die Dunkelziffer war jedoch mit Sicherheit um einiges höher), wurden die Ausgangsbeschränkungen in den ersten Wochen der Pandemie größtenteils eingehalten und vor allem strengstens von Polizei und Militär kontrolliert. Man hoffte, durch die völlige Abschottung das Virus gar nicht erst ins Land zu lassen und seine Verbreitung ausgehend von den wenigen, bereits nachgewiesenen Fällen aus durch die Ausgangssperre zu verhindern. Im Rahmen des Lockdowns wurden auch alle Universitäten, Schulen und Kindergärten geschlossen; der Apoyo war ebenfalls betroffen. Wir Freiwilligen nutzten die „freie Zeit“, um die Außenwand des Apoyos neu zu streichen – ein Projekt, das wir bereits im Januar begonnen hatten. Glücklicherweise gelang es uns, die zur Straße zeigende und somit nach außen hin sichtbare Seite noch abzuschließen, bevor wir Ende März in zeitgleich mit einer aufwändigen Rückholaktion der deutschen Bundesregierung schweren Herzens zurück nach Deutschland flogen. Zu diesem Zeitpunkt gab es landesweit um die 80 bestätigte Infektionsfälle. Obwohl wir vieles nicht zu Ende bringen und auch die weitere Entwicklung unserer Projekte während der Pandemie nicht miterleben konnten, gelang es uns doch, uns durch den Anstrich letztendlich in gewisser Weise zu verewigen, denn die Außenfassade des Apoyos zieren nun zahlreiche bunte Gemälde und die Namen der Spenderorganisationen. Von meiner Educatora Deysi, mit der ich noch häufig in Kontakt bin, bekam ich einige aktuelle Informationen zum Verlauf des Apoyos während der Pandemie im Jahr 2020.

Zirka 70% der Erwerbstätigen in Bolivien arbeiten in der informellen Wirtschaft als Tagelöhner. Daher war es nach den ersten Wochen des Lockdowns vielen Menschen schlichtweg nicht mehr möglich, zuhause zu bleiben. Die Straßen und Marktplätze waren – trotz der weiterhin geltenden Ausgangsbeschränkungen – bald wieder menschengefüllt, und so konnte sich das Virus rasend schnell verbreiten. Von Mai/Juni bis August erlebte das gesamte Land einen schrecklichen Gesundheitsnotstand mit Höchstständen an Infizierten, überfüllten Krankenhäusern, Krematorien und Friedhöfen, auf offener Straße sterbenden Menschen und unzähligen Familien, die sich an den Rand ihrer Existenz gedrängt sahen. Ab August/September gingen schließlich die Infektionszahlen zurück und die Situation entspannte sich, auch die Fundación konnte ihr Verwaltungsbüro wieder öffnen und die Wiederaufnahme ihrer Dienste planen. Viele Einrichtungen wie z.B. Schulen, Kindergärten und Universitäten blieben weiterhin geschlossen, aber zusammen mit den Tías des Kindergartens und dem Organisations- und Agrar-Team um Tilme, der Leiterin des Kindergartens, wurden in Tirani Essenspakete an die bedürftigen Familien verteilt – bezahlt von Spendengeldern. Dies sicherte vielen Familien im Dorf das Überleben. Bereits als sich abgezeichnet hatte, dass die Einschränkungen durch die Coronapandemie nicht schnell wieder aufgehoben werden würden, waren die Educatoras über soziale Medien mit den Kindern und deren Eltern in Kontakt getreten, hatten sich nach deren Lage erkundigt und begonnen, virtuell bei Aufgaben und Übungen zu helfen, die von den Lehrern digital zugeteilt wurden.

Mitte September konnte der Apoyo wieder öffnen. Zuerst besuchten die Educatoras zusammen mit den Kindern die Familien aller, um darüber zu sprechen, wie es den einzelnen Haushalten in der Pandemie ergangen war. Danach wurden unter Einhaltung von Hygienevorschriften die Aktivitäten des Apoyos wieder aufgenommen. Die ursprünglich drei Salas/Gruppen bestehen fort, wurden aber in mehrere Kleingruppen unterteilt, die an getrennten Orten arbeiten, um den Sicherheitsabstand besser gewährleisten zu können. In diesem Zusammenhang wurden auch die Bibliothek und der mit einer Plane „überdachte“ Vorplatz des Apoyos mit Tischen und Stühlen ausgestattet und stehen als zusätzliche Arbeitsplätze zur Verfügung. Verstärkung bei der schulischen Unterstützung der Kinder erhielten die Educatoras von den Tías des Kindergartens, die das gesamte Jahr 2020 über ohne Bezahlung durch den Staat auskommen hatten müssen. Ihre Löhne wurden für einige Monate von der Fundacíon Cristo Vive getragen und aus Spendengeldern finanziert. Die Educatoras standen und stehen mit einigen Lehrern der Dorfschule in Kontakt, um die Lernziele der Kinder besser definieren zu können – vor allem aber richten sie sich nach den individuellen Bedürfnissen der Kinder. Der Apoyo wurde mit nur einer Woche Pause bis Weihnachten kontinuierlich fortgeführt und nach der Sommerpause bereits zum 4. Januar 2021 wiederaufgenommen, da die Kinder aufgrund des faktisch vollständig ausgefallenen Schuljahres 2020 extreme und nur schwer aufzuholende Lerndefizite haben. Deysi zufolge kommen inzwischen auch Kinder in den Apoyo, die zuvor nicht gekommen sind, weil sie es nicht nötig hatten. Neben schulischen Aktivitäten helfen die Apoyo-Kinder – jede Woche eine andere Sala – einmal wöchentlich Patricia, der Agronomin der Fundación, beim Pflegen des Gemüsegartens und der Pflanzen auf dem Projektgelände (Bewässern, Säen, Ernten, Hacken usw.). Ein enormer Gewinn für die Kinder ist neben der schulischen Unterstützung die Chance, sich nun wieder treffen und gegenseitig austauschen zu können.

Ausblick 2021

Die Lage bleibt unsicher und die Dienste in Tirani schwer planbar. Im Moment gibt es auch in Bolivien eine zweite Welle an Coronainfektionen, von der noch unklar ist, wie sie sich entwickeln und wie stark sie ausfallen wird. Trotzdem hofft man, dass die Schulen bald wieder öffnen können und auch der Kindergarten in Tirani wieder finanziell vom Staat übernommen und geöffnet wird. Die Wiederwahl der MAS-Partei (Partei Evo Morales‘) bei den Neuwahlen am 18. Oktober 2020 bietet dafür grundsätzlich gute Voraussetzungen. Der Apoyo soll, solange es die Infektionslage zulässt, dem aktuellen Betrieb entsprechend fortgeführt werden. Ab Februar 2021 werden zudem deutlich mehr Einschreibungen erwartet als bisher, da sich aufgrund des langen Unterrichtsausfalls eine hohe Inanspruchnahme der Förderangebote im Apoyo abzeichnet.

 

 

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