Halbjahresbericht von Anton aus dem Hogar
Liebe Leute jenseits von Chile!
Kaum zu glauben, dass für mich bereits die Zeit gekommen ist, mein erstes halbes Jahr zusammen zu fassen und zu reflektieren.
Ich bin ein wenig darüber erschrocken, wie schwer es mir fällt, die Zeit in meinem Kopf Revue passieren zu lassen, die vergangen ist, seitdem das erste Vierteljahr vorüber ist. Ich könnte meinen, ich sei mit nichts anderem beschäftigt gewesen, als meiner Arbeitsroutine zu folgen und mir den Feierabend so stressfrei wie nur möglich zu gestalten. Der Blick auf mein Handy belehrt mich aber eines Besseren und ich stelle fest, dass ich in den letzten drei Monaten doch den ein oder anderen schönen, intensiven als auch zum Nachdenken anhaltenden Moment erlebt habe.
Das Phänomen meiner anfänglichen Leere gegenüber der bis dato vergangenen Zeit, erschließt sich mir nach Überlegung aber klar. Die Wahrnehmung alles Erlebten wird von Mal zu Mal selbstverständlicher, da man sich inzwischen daran gewöhnt hat, in Chile zu leben und von den dazugehörigen neuen Umständen täglich umgeben zu sein. Wenn ich durch die Gassen meiner Siedlung gehe, ist es offensichtlich, dass ich mich in einem der ärmeren Teile Santiagos befinde. Kleine, nah aneinandergereihte Häuschen in mehr oder weniger guten Zuständen. Was einem hinter der Haustür jener Häuser zu erwarten hat, bleibt nur zu erahnen. Nicht, dass ich damit andeuten wollen würde, dass in jedem dieser Häuser das reine Chaos herrsche und ein meiner Meinung unbewohnbarer Ort vorzufinden sei, jedoch ist dieses Bild sicher kein Einzelfall.
Selbst miterlebt habe ich so einen Extremfall im Zuge eines Gefallens um den ein Teil der Freiwilligen gebeten wurde. Hierbei handelte es sich um das Aufräumen und Saubermachen einer Familienwohnung, einer Mutter mit zwei Söhnen (5 und 11 Jahre alt). Krankheitsbedingt war es der Mutter bis zu diesem Zeitpunkt nicht mehr möglich gewesen, ihre beiden Söhne vernünftig zu versorgen und eine übersichtliche Ordnung im Haus beizubehalten. Am Haus angekommen erwartete uns Müll sondergleichen und ein unerträglicher Geruch der in der Luft stand. Der Zustand im Innenraum der Wohnung wurde zusehends besser und nach offensichtlicher schambehafteter Eingewöhnungsschwierigkeiten, konnte sich auch die Mutter damit abfinden, dass fremde Leute in ihren eigenen vier Wänden klar Schiff machen. Das ein oder andere Lächeln bestätigte, dass auch sie es für das Richtige empfand, sich auf unsere Hilfe einzulassen. Der Tag hat mir ehrlich gesagt viel Spaß gemacht. Man hat unter anderem einen effektiven Arbeitsprozess verfolgen können, genauso war der Tag aber auch sehr erfahrungsreich für mich und lässt mich im Nachhinein viele Dinge besser verstehen. Ganz abgesehen haben wir zum Ende des Mittags Menschen für einen Moment sehr glücklich gemacht, weshalb ich mich für diesen Zeitpunkt auch in meiner Freiwilligenarbeit bestätigt gefühlt habe. Dennoch gehe ich davon aus, dass die beiden Jungs nicht mehr mit ihrer Mutter zusammenleben, sondern inzwischen in einem lebensgerechteren Wohnort untergebracht sind. Ihrem damaligen schlimm anzusehenden physischen Zustand zufolge, frage ich mich gar, ob die Mutter noch am Leben sein wird.
Im Eiltempo lief man den Weihnachtstagen entgegen. Parallel begann es regelmäßig über 30 Grad heiß zu werden. Die normalerweise so ruhige Adventszeit, die meiner Meinung auch viel Romantik innehält, verpuffte mit all seinen Eigenschaften. Da halfen auch keine wöchentlichen Adventsandachten in der Arbeitsstelle, um in eine verheißungsvolle Stimmung versetzt zu werden. Vom Hogar wurde Anfang Dezember dazu noch ein Frühlingsfest mit Musik, Theater und Tanz ausgerichtet. Auch von den Jovenes wurden dem Publikum Aufführungen präsentiert. Dementsprechend wurde täglich fleißig geübt, weshalb mir eingeübte Lieder letztendlich eher auf den Geist gingen, als dass ich mich daran erfreuen konnte. Das Fest war im Endeffekt wie erwartet aber sehr schön und familiär und veranlasste mich sogar noch dazu eine kleine Ansprache vor knapp fünfzig Personen zu halten. Rückblickend auf den Dezember würde ich außerdem sagen, dass ich gewissermaßen zu verdrängen versuchte, daran zu denken, Weihnachten nicht zuhause zu sein.
Wie erwartet war Heiligabend dann auch tatsächlich der Moment gekommen, der mich das erste Mal Heimweh verspüren ließ. Wenn ich mich richtig erinnere, hatte ich zu Beginn des Tages auch ziemlich schlechte Laune, allein schon der Tatsache geschuldet, für ein paar Stunden zur Arbeit gehen zu müssen, um nicht mehr zu machen, als zu frühstücken und zu plaudern. Nachdem zum Nachmittag auch noch Langeweile in mir aufkam und ich nichtstuend geplättet im Bett lag, wäre ich nirgends lieber als im heimischen Wohnzimmer gewesen. Ich hatte mir schon gar selbst Leid getan so trostlos war dieser Moment. So konnte ich mich an diesem besonderen Tag aber wirklich nicht hängen lassen. Dies ließ der weitere Tagesverlauf aber auch gar nicht mehr zu. Wir haben köstlich gekocht, zusammengesessen und diesen speziellen Abend zusammen genossen. Ein schöner Moment, der die stimmige Harmonie in unserem gut zusammenfasste und mein Heimweh schnellstens in Vergessenheit geraten ließ.
Wie Ihr so also eventuell bereits bemerkt, habe ich sehr viel Zeit nachzudenken, weshalb es oftmals immer wieder dazu kommt, dass ich in Verkettungen jeglicher Gedankengänge verfalle, die mich, dem Ausgang ganz abhängig, mal positiv, mal negativ stimmen. Weiterhin tue ich mich damit schwer, freizeitlich aktiver zu werden. Es wurde durch die enorme Hitze eher noch schwieriger nach Feierabend jegliche Motivation für eine Abwechslung neben dem Arbeitsalltag aufzubringen. Einzig das ausgiebige Kochen am späten Abend lässt mich die langen Tage stets entspannt und ausgeruht beenden.
Nichtsdestotrotz wurde ich erfreulicherweise vor Kurzem in ein Fußballteam eingeladen. Adrenalingeladen vor lauter Vorfreude habe ich mich in die erste Partie mit meinen neuen Mitspielern gestürzt. Südamerikanischer „Straßenfußball“ wie ich ihn mir gewünscht und vorgestellt hatte. Ein unglaublich schnell gespielter Ball mit wirklich schön anzusehender Technik der Mit- und Gegenspieler. Fürs Erste sicherlich gewöhnungsbedürftig, aber umso spaßiger, als ich dann bemerkt habe, gut mithalten zu können. Unglücklicherweise habe ich mir jedoch sofort an beiden Fußsohlen schrecklich große Blasen gelaufen. Den darauffolgenden Tag konnte ich sogar nicht zur Arbeit gehen so lädiert kam ich daher. Als ich mich weiterhin leidgeplagt wieder auf der Arbeit blicken ließ, hatte man meine Füße begutachten wollen. Aus anfänglicher Schadenfreude wurde schnell Ernst, weshalb ich von den Tias zum Arzt geschickt wurde und man mich Hals über Kopf per Rollstuhl zur nahegelegenen Krankenaufnahme gefahren hat, um meine Füße verarzten zu lassen.
Mir war schon recht früh nach Beginn meiner Arbeit im Hogar klar, in einem sehr familiären, herzlichen Ort untergekommen zu sein. Ich bewege mich seither sehr frei und und ungehemmt und der Zeitvertreib mit den Jovenes stellt ein großes Anvertrauen dar. Einzig die Sprache hatte das ein oder andere Mal immer mal wieder zu Missverständnissen geführt, die sich mit meinem inzwischen nun deutlich besser gewordenen Spanisch kaum noch wiederholen sollten. Allgemein lässt sich weiterhin festhalten, dass ich in der Regel gerne zur Arbeit gehe, auch wenn es immer wieder aufs Neue eine Herausforderung ist, morgens aus dem Bett zu kommen. Ich fühle mich in meiner Position zwischen den Tias sehr wohl. Wir lachen viel und von Woche zu Woche finden jegliche Konversationen noch selbstverständlicher statt, auch wenn Tage dabei sind, in denen der Wurm steckt und kaum ein Wort in Spanisch von der Zunge gehen will. Oftmals fühle ich mich so, als sei ich von vier Müttern umgeben. Ich habe inzwischen also auch schon gelernt, mich Carmen und besonders Sonia, Edith und Carola mehr annähern zu können und ihnen mit etwas persönlicheren Dingen entgegen zu treten.
Was während der ausgiebigen Vorbereitungszeit auf das Freiwilligenjahr besprochen wurde, muss ich in verschiedensten Situationen aufs Neue realisieren: Ich bin in Chile wirklich weit entfernt von meinem Zuhause. Ich muss feststellen, dass sich meine heimatliche Umgebung ungehalten verändert und weiterentwickelt, genauso wie ich mit allen neuen Eindrücken innerhalb und außerhalb des anderen Ufers der Welt schlauer, reifer und reflektierter werde.
Schlussendlich bleibt mir weiterhin die Gespanntheit darauf, mit was für einem Blick ich auf meine Heimat in Deutschland zurückkehren werde und was mich in den letzten 5 ½ Monaten erwartet. Ich sende Euch allen viele Grüße aus meinem Urlaubsort in Peru und freue mich schon darauf, das nächste Mal meine Eindrücke und Gedanken mit Euch teilen zu können.
Euer Anton