Tick, Tack, Tick, Tack…Unsere Uhr im Wohnzimmer tickt ununterbrochen. 360 Mal die Stunde, 24 Stunden lang.

Ja, die Zeit. Wie schnell sie doch vergangen ist.

Gerade eben bin ich doch noch in Cochabamba gelandet, habe die Stadt bei Nacht von oben gesehen und musste mich an alles erst gewöhnen.

Und jetzt bleiben mir noch genau 11 Tage bis ich mein mittlerweile geliebtes Cochabamba bzw. Tirani wieder verlassen muss. In 11 Tagen soll ein ganzes Jahr, bzw. eigentlich sogar nur 360 Tage schon vorbei sein.

Was ist mir der Zeit geschehen? Mit den vielen Tagen und Stunden?

Und vor allem was nehme ich von diesem Jahr mit?

In erster Linie habe ich gearbeitet.

Jeden Morgen in den Kindergarten, vorbei am Fenster zu meiner Sala, wo mir schon die ersten „Tia Panchita“ -Rufe entgegen kommen. Durch die Küche, mein Frühstück mitnehmend, dann endlich zu meinen Kleinen und schauen, dass ich nicht umfalle, weil mindestens 15 der Kiddies dann gleichzeitig schreiend auf mich einstürmen und mich umarmen wollen.

Ja, alleine dieses Begrüßungsritual, macht alles, was anstrengend ist, tausendmal wett. Das und die Namen, die sie mir gegeben haben, zeigen mir, dass ich für sie nicht irgendjemand bin. Genauso wie sie mir alle extrem ans Herz gewachsen sind. Auch weil ich schon das ganze Jahr über mit dieser Gruppe arbeite, wird mir der Abschied sehr schwer fallen. Es ist einfach so schön, zu sehen, wie sie sich entwickelt haben, welche Fortschritte sie machen, dass ich nicht glauben möchte, dass ich nicht mehr lange ein Teil ihres Lebens sein werde.

Ich kann noch nicht wirklich akzeptieren, dass an meiner Stelle, eine ganz andere Person meine Arbeit übernehmen soll, meine Kinder in den Arm nehmen wird, ihre Fortschritte miterleben wird und sie auch irgendwann „meine Kinder“ nennen wird. Auch habe ich Angst, dass ich bei ihnen dann eine Lücke hinterlasse, oder ähnliches.

Damit sie mich aber nicht zu sehr vermissen, werde ich ihnen jedem ein Armbändchen aus roter Wolle um die Ärmchen binden. Das ist hier ein Brauch, dass man bei einem Abschied, den Menschen, die man liebt, ein solches Armband gibt, damit sie in der Zwischenzeit beschützt sind und den anderen nicht zu sehr vermissen. Es ist eine Art Talisman.

Genau solch ein Bändchen haben wir auch schon von unseren Betreuerinnen bekommen, damit wir uns zwar an die Zeit hier erinnern, aber nicht „krank“ davon werden.

Für mich wird es vor allem eine Erinnerung an meine Kleinen sein, die nun ohne mich die Sala aufmischen und Tag für Tag mehr sprechen lernen.

Meine Gruppe beim Marsch zum Tag des Meeres

Meine Gruppe beim Marsch zum Tag des Meeres

Es ist aber auch eine Erinnerung an Lizeth, meine Tia. Mit ihr arbeite ich auch schon das ganze Jahr über. Und wir sind auch das einzige „Team“, das keinen Wechsel hatte. Dementsprechend verstehen wir uns bei der Arbeit mittlerweile fast schon blind. Und auch sonst, hab ich sie richtig lieb gewonnen, auch weil wir beide die „Bastel-Freaks“ des Equipos sind. Durch sie durfte ich in diesem Jahr viel über Geduld, Ruhe, Spaß und Motivation beim Umgang mit Kindern lernen. Das ist wahrscheinlich das größte Geschenk, das sie mir machen konnte. Ich habe zwar gemerkt, dass die Arbeit im Kindergarten nicht mein Beruf ist, doch habe ich mittlerweile sehr viel Respekt vor jedem, der sich dafür entscheidet.

Nach dem Mittagessen, Putzen, Schlafenlegen und der Mittagspause, geht’s dann ab in den Apoyo.

Dort konzentriere ich mich zur Zeit mehr auf die Sala, da das Basteln auch ohne mich sehr gut funktioniert. Außerdem gibt es gerade mit den Jugendlichen sehr viel, wo man verbessern, unterstützen und helfen kann. Besonders Englisch und Mathe sind hier die Fächer, bei denen Philipp und ich Ansprechpartner sind. Vor allem, weil unser Educador da nicht so fit ist.

Ein Teil meiner Apoyo-Gruppe

Ein Teil meiner Apoyo-Gruppe

Aber auch was Regeln, Respekt, Zukunftsperspektiven usw. angeht, gibt es hier viel zu tun. Auch weil die Sala an sich noch nicht sehr lange existiert und unser Educador letztes Jahr erst angefangen hat, fehlt noch so etwas wie eine Routine, geregelte Abläufe und klare Regeln. Hier wird meiner Meinung nach in Zukunft sehr viel Unterstützung gebraucht. Mir hat besonders Spaß gemacht, mich um ein oder zwei Kids intensiv zu kümmern, und auch einmal nach der Arbeit kleine „Englisch-Nachhilfe-Stunden“ zu geben. Ich hätte so viele Ideen, die ich noch gerne umsetzen würde, doch leider reicht die Zeit nicht.

Im Gegensatz zur Arbeit im Kindergarten, würde ich hier sehr gerne „weiter“ machen. Oder mir in Deutschland eine ähnliche Aufgabe suchen, denn es macht richtig Spaß, Jugendlichen beim Erreichen ihrer Ziele und Wünsche zu helfen.

Vor allem durch die Arbeit im Apoyo, und die strukturellen Veränderungen, die dort momentan stattfinden und noch stattfinden werden, hat sich für mich der Wunsch, beruflich in die Entwicklungspolitik zu gehen, verstärkt. Der erste Schritt wird das Politikwissenschaften- Studium sein, dass ich kommendes Semester anfangen werde. Darauf freue ich mich auch schon sehr.

Aber es wäre schön, einmal für ein Praktikum, oder sogar für ein ganzes Semerster wieder hier her zu kommen und noch einmal im Apoyo helfen zu können.

Zu Besuch werde ich, denke ich, definitiv kommen. Am liebsten innerhalb der nächsten zwei Jahre. Auch weil 2017 das 10-jährige Jubiläum vom Apoyo sein wird und alle Ex-Freiwilligen zur Feier eingeladen werden.

Dann meine Kleinen und Großen wiederzusehen, wäre das Größte.

Aber auch wegen des Equipos. Denn wie schon der Eindruck war, als ich ankam, ist das hier in Tirani eine einzige Familie. Und wir Freiwilligen wurden mit so viel Liebe, Unterstützung, Verständnis, Geduld und offenen Herzen in diese Familie aufgenommen. Den Zusammenhalt konnte man vor allem an der Feier zum „Dia de la Amistad“ (Tag der Freundschaft) sehen. Oder am gemeinsamen sonntäglichen Chicharon-Essen dieses Wochenende. So ein gemütliches, ausgelassenes Beisammensein kenne ich eigentlich nur von meiner Familie. Dieses Equipo wird für mich immer meine Tirani-Familie bleiben und auch immer einen Platz in meinem Herzen haben.

Kinobesuch mit dem Equipo zur Feier des 5-jährigen Jubiläums des Kindergartens.

Kinobesuch mit dem Equipo zur Feier des 5-jährigen Jubiläums des Kindergartens.

Gerade in letzter Zeit, der Zeit des Abschieds, bekommen wir oft gesagt, wie viel wir hier helfen usw. Meiner Meinung nach, helfen die Leute hier uns mindestens genauso viel. Wenn ich daran denke, wie ich mich anfangs verständigen konnte. So gut wie gar nicht. Und trotzdem wurde ich irgendwie mit viel Geduld verstanden und unterstützt. Oder wie viele Dinge sie uns beigebracht haben, über die Kultur, das Leben hier, sogar ein paar Worte Quechua und das Binden eines Aguayos, dem traditionellen Tragetuch. Auch Traditionen wie eine K’oa durften wir mehrfach mitfeiern. Dafür bin ich unendlich dankbar.

In diesem Jahr bin ich auch viel gereist. Vor allem durch Wochenenden und zwei längere Urlaube habe ich tatsächlich fast alle Departamentos Boliviens besucht. Einzig Pando nicht, und die Umgebung Cochabambas. Doch irgendwas muss ich mir ja auch für den Besuch aufheben. Die Reisen waren in erster Linie Erholungspausen von der Arbeit und auch interessant um andere Seiten Boliviens kennen zu lernen. Man lernt auch eine mehrstündige Busfahrt ohne Toilette auszuhalten. Und wenn sich die Deutschen etwas von den Bolivianern abschauen können, dann die Qualität und Vielfältigkeit des Busnetzes.

Wenn ich mal nicht arbeite oder reise, dann gehe ich zum Chor. Dort habe ich wiederrum ganz andere Menschen kennen gelernt, als unser Equipo oder unsere Freunde. Gleichzeitig macht es auch Spaß endlich mal wieder zu singen. Und dank diesen Kontakten darf ich auch im Chor der Cochabamba-Philharmoniker mitsingen. Einem Chor mit sicher 100 „professionellen“ Sängerinnen und Sängern.

Das Tanzen habe ich leider nicht geschafft, aber auch hier gilt, wenn nicht jetzt, dann später mal. Oder ich lerne es in Deutschland. Das geht ja auch. Das selbe gilt für meinen Spanischkurs. Denn mein Spanisch möchte ich auf keinen Fall verlernen, dafür ist mir der Kontakt hierher zu wichtig.

Und ansonsten habe ich meine Freizeit für kreative Arbeiten genutzt. Das Basteln, Malen, Nähen, Ideen entwickeln und umsetzen war und ist wohl das, was mein Jahr hier am meisten geprägt und zu meinem Jahr gemacht hat. Endlich hatte ich einmal die Gelegenheit, mich komplett ausleben zu können und einfach mal zu machen, was mir in den Kopf kommt.

Ich hatte anfangs gesagt, dass ich meine kreative Ader erst hier an mir entdeckt hätte. Doch mittlerweile denke ich, dass ich diese Ader schon immer hatte, ich konnte meine Ideen nur nie wirklich umsetzen. Hier geht das sogar richtig gut. Sowohl in der Arbeit, als auch im WG-Leben gab es genug Möglichkeiten. Da war natürlich das Basteln mit den Kindern im Apoyo, aber auch im Kindergarten durfte ich selbst Actividades vorbereiten, Vorlagen zeichnen und im Halbjahr die Sala neu gestalten.

Im Privaten konnte ich durch Deko, Adventskalender, kleine Überraschungen zu Ostern und Nikolaus und so manch andere Kleinigkeiten unseren Alltag etwas verschönern und mir gleichzeitig ein Hobby schaffen, das mir gut tut. Ein sehr wichtiger Teil war und ist dabei auch immer die Freude der anderen. Für mich ist es ein riessen Geschenk, wenn ich anderen eine kleine Freude machen kann. Und wenn die Sache selbst letztlich nie gebraucht wird, oder noch so klein ist.

Es ist einfach das Grösste, durch die kreative Arbeit, die mir so ja schon viel gibt, auch anderen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Deshalb hatten meine Mitfreiwilligen zum Beispiel auch an meinem Geburtstag jeder einen Wunsch frei, den ich im Laufe des Jahres erfüllen wollte.

Es fehlen noch ein paar, aber ich denke und hoffe, ich bekomme das noch hin. ……..

Doch das schöne an unserer WG ist, dass wir wirklich zusammen leben. ….. Wir sind aus 5 extrem unterschiedlichen Charakteren zu einer Gemeinschaft zusammengewachsen, die sich gegenseitig unterstützt, nacheinander schaut und dem anderen doch seine Freiräume lässt.

Dass wir einmal so gut miteinander klar kommen würden, hätte ich anfangs überhaupt nicht gedacht. Auch den Kontakt zu meinen Mitfreiwilligen möchte ich nicht verlieren. Denn diesind mir alle wahnsinnig wichtig geworden.

Dieses Ruhe, das unaufdringliche aber aufgeschlossene, einfache Ich-sein, wie ich es hier bin, das möchte ich auch mit nach Deutschland nehmen.

Ja, ich bin mehr ich selbst, versuche meine Ideen, Pläne, Aufgaben und Pflichten so gut es geht umzusetzten und gleichzeitig aber auch die Kommunikation mit meinen Mitmenschen nicht einschlafen zu lassen. …………..

Aber ich habe auch gelernt, andere nach ihrer Meinung zu fragen, diese auch in meine Überlegungen einzubinden und dass im Gespräch oft die besten Ideen entstehen.

Ich denke die Akzeptanz der Andersartigkeit und Unterschiedlichkeit durfte ich hier wohl am intensivsten lernen. Und auch, dass Akzeptanz einiges erleichtern kann.

Nicht einfachso wurden „Shit happens“ und „Asi es la vida“ (so ist das Leben) meine Standartsprüche. Sie spiegeln auch teilweise die Einstellung wider, die ich hier für mich entdeckt habe:

Hab Träume, Wünsche, Ideen und Visionen und setzte dich für diese ein, doch bleibe immer schön auf dem Boden der Tatsachen. Und wenn etwas mal nicht nach Plan läuft, dann ändere den Plan.

Zu guter Letzt noch eine kleine Rückmeldung an meine Entsende- bzw. Empfängerorganisation. Die Betreuung hier vor Ort ist einfach „Bombe“. Egal was los ist, ob wegen Krankheit, wegen Visum oder Geldkarte weg, man kann sich immer melden und es wird immer einer gute Lösung gefunden. Und vor allem die monatlichen Treffen mit allen Freiwilligen, bei denen Konflikte, andere Probleme oder einfach nur interessante Themen besprochen werden sind echt klasse. Nicht zu vergessen die zusätzlichen Seminare, die sich meiner Meinung nach jedes Mal gesteigert haben. Bloß die anfängliche Mehrfach-Betreuung war etwas verwirrend, aber das war ja Gott sei Dank nur eine Übergangslösung.

Auch bei der Arbeit kann man jederzeit Wünsche und Anregungen äußern und es wird versucht, diese zu beachten und umzusetzen.

Auch zu Cristo Vive Europa kann ich fast nur positives weitergeben. Es war eine riesen Erleichterung, dass man sich auch hier immer per Mail mit einem Anliegen melden konnte, und geschaut wurde, wie es geregelt werden kann. Vor allem auch das Konzept, wie mit den Spendengeldern von uns Freiwilligen umgegangen wird, ist um einiges praktischer, als z.B. unserer Mitfreiwilligen. Auch die Vorbereitung auf diesen Freiwilligen-Dienst ist sehr hilfreich, auch wenn es natürlich auf Grund der Freiwilligen-Zahlen oft eher Chile-lastig war. Ich hoffe bei Rückkehrer-Seminar wird das nicht mehr so sehr der Fall sein. …..

Und ich stelle fest:

Ja, ich werde es vermissen, das Leben im Land der Coca und der Cola. Das Leben mit meinen Mitfreiwilligen, die mich nach nur einem Jahr mindestens genauso gut kennen wie meine Familie. Ich werde es vermissen das Leben mit Tiendas an jeder Ecke, mit Trufis, Märkten, Aguayos, mit hupendem Autoverkehr, dem angenehmen Klima, Empanadas & Co, Luxusbussen, Mate de Coca und vieles mehr.

Aber auch die nicht so schönen Dinge hier, werde ich nicht vergessen, die bettelnden Mütter und Großmütter auf den Straßen, den großen Familien in kleinen Hütten, das Kaugummiverkaufende Mädchen und die verflixte Bürokratie.

Aber genauso freue ich mich auf meine Familie, auf das Kaffeetrinken bei meiner Oma, auf mein Studium, auf eine Waschmaschine, einen Trockner, auch nachts noch heiß duschen zu können, das Wasser aus dem Hahn trinken zu können, überhaupt immer Wasser zu haben, auf schnelles Internet, mein großes Zimmer, meine Freunde, Kopfsalat essen zu können, auf das Essen meiner Mutter und Butterbrezeln.

Denn die Optimistin in mir erinnert sich an ein Lied, dessen Refrain mit diesen Worten beginnt: „Abschied heißt was neues kommt, Abschied heißt Hallo“.

Also, was ist mir der Zeit geschehen? Mit den vielen Tagen und Stunden?

Und vor allem was nehme ich von diesem Jahr mit?

Ich hab sie gefüllt, die Zeit.

Ja, meine Zeit hier war gefüllt von schönen Momenten mit den Kindern und Jugendlichen, von traurigen und lustigen Momenten mit meinen Mitfreiwilligen, von abenteuerlichen Reisen durchs Land und gemütlichen Abenden zu Hause.

Dieses Jahr war so komplett anders als erwartet und doch genau richtig.

Und genauso wie mein Jahr gefüllt war, werde ich viele kleine und große Erinnerungen, Souvenirs, Traditionen und Gewohnheiten, Bilder und Eindrücke daraus in meinen Koffer packen, wenn es in 11 Tagen dann heißt. Hasta pronto Bolivia! Hallo Deutschland!

Vielen Dank an Cristo Vive Europa, für die Möglichkeit eine solche Erfahrung machen zu dürfen und für die Unterstützung, egal welche Anliegen wir hatten.

Ihr seid die Besten!!!

 

„Panchita“ /Franziska S.