„Mit meiner Arbeit möchte ich Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Ich möchte ein neues Land, seine Kultur und seine Leute kennenlernen um so meinen Horizont zu erweitern.“
Diese Wünsche findet man in meinem Motivationsschreiben, mit dem ich mich im Oktober 2013 bei Cristo Vive für einen Freiwilligendienst bewarb.
Nach einem halben Jahr in Bolivien (Halbzeit) möchte ich versuchen eine Zwischenbilanz zu ziehen und frage mich, ob sich die Erwartungen mit der Realität decken. Wo stehe ich jetzt und wo will ich noch hin? Das sind typische Fragen, die ich mir stelle, schließlich bleibt nicht mehr so viel Zeit, um sich alle Wünsche zu erfüllen.
Schon von meinem jetzigen Standpunkt aus kann ich behaupten, dass es die beste Entscheidung war nach Bolivien zu gehen. Natürlich hatte das erste halbe Jahr Höhen und Tiefen, jedoch haben die Höhen eindeutig dominiert.
Mit einem Kopf voller Träume, Erwartungen und Illusionen bin ich im August in Cochabamba angekommen und war unglaublich enttäuscht, dass diese nicht erfüllt wurden. Ich litt unter einem Kulturschock. Nach und nach begann ich jedoch das System, das mir anfänglich wie ein einziges Chaos erschien, zu durchschauen. Nach ca. drei Monaten war das „ich-bin-angekommen-Gefühl“ auf einmal voll da und Deutschland erschien mir weiter weg denn je. Doch, was heißt ankommen überhaupt? Kann oder muss man sich in einer WG bestehend aus vier Deutschen überhaupt in die bolivianische Kultur einleben und eingliedern?
Anfangs hatte ich, außer bei der Arbeit, wenig Kontakt zu Bolivianern. Jedoch sind soziale Kontakte unbedingt notwendig um sich zuhause zu fühlen. Mit den Mitfreiwilligen haben sich tiefe Freundschaften entwickelt, denn da gibt es auch keine Sprach-und Kulturhürde zu überwinden. Inzwischen habe ich jedoch bolivianische Bekannte, die vielleicht dem Begriff Freundschaft gerecht werden könnten. Im Gegensatz dazu muss man bedenken, dass sich Freundschaften, die ich in Deutschland habe, über Jahre hinweg aufgebaut und entwickelt haben.
Zwischendurch war ich etwas abgeschreckt von einigen Bolivianern, die nur mit mir „befreundet“ waren, um sich damit rühmen zu können. Hier sind hellhäutige Ausländer sehr gut angesehen und manchmal hatte ich den Eindruck, dass ich nur wegen der Hautfarbe interessant bin. Inzwischen merke ich jedoch, dass ganz viel Interesse an Deutschland und Neugierde dahintersteckt und es auch Vorteile haben kann, einen kleinen Sonderstatus als Ausländer genießen zu dürfen.
Es ist ungewohnt in einem Land zu der eher wohlhabenden Schicht zu gehören und auch größtenteils in dieser Gruppe seine gleichaltrigen sozialen Kontakte zu knüpfen, da diese Leute die finanziellen Mittel haben auch mal einen Kaffee trinken zu gehen. Schließlich trifft man sich, wenn man sich kaum kennt, nicht gleich bei jemandem zuhause. Außerdem sind wir mehr in Kontakt mit 24 und 25jährigen, da sie zwar noch immer zuhause wohnen, jedoch ab und zu auch mal ausgehen dürfen. Ich finde, dass das ein ganz gravierender Kulturunterschied ist, den man auch an der Selbstständigkeit bemerkt. Damit geht gleichzeitig einher, dass sie auch eher an der westlichen Kultur orientiert sind, anstatt an der indigenen. An Festen wie Todos Santos und Weihnachten finde ich es schade, diese nicht in einer bolivianischen Familie verbringen zu können.
Am meisten eingegliedert in die Kultur fühle ich mich beim Tanzen. Der Tanz Tinku, den ich regelmäßig betreibe, kommt ursprünglich aus Potosí und soll ausdrücken, wie sich die Indigenen gegen die spanischen Eroberer wehrten, welche sie zu Sklaven machen wollten. Da die Kultur der indigenen Tänze mit der christlichen Tradition verschmilzt, durfte ich beim primero convite (Übungsumzug) miterleben, wie meine Fraternidad (Gruppe) nach dem Tanzen auf Knien durch die Kirche zur Virgin gerutscht ist. Hier ist Platz für Wünsche und Bitten an Maria, im Gegenzug verspricht man drei Jahre für sie zu tanzen.
Da der Karneval immer näher rückt (14./15.02) wird nochmal deutlich, welch große Bedeutung und Wichtigkeit das Tanzen hier hat. Auf fast allen öffentlichen Plätzen sieht man die verschiedenen Gruppen hartnäckig trainieren. Auch meine Fraternidad und ich trainieren inzwischen fast jeden Tag, wer nicht kommt muss Strafe zahlen. Ich hätte nie gedacht, dass mir diese Art von Tanzen so Spaß machen wird, aber ich tanze inzwischen nichts mehr lieber als Tinku.
Die Blaskapellen, die für deutsche Ohren total ungewohnt klingen, begleiten uns und durch die gleichen Bewegungen und die gleiche Tracht entsteht ein total schönes Gruppen- und Gemeinschaftsgefühl. Die neuen Mitglieder werden durch eine Art Taufe in die Fraternidad aufgenommen, die bei einem ausgelassenen Fest vollzogen wurde und nun gehöre ich richtig zu meiner Fraternidad dazu.
Unsere Wohnung in Quillacollo ist schon ein richtiges Zuhause für mich, denn ich fühle mich dort richtig wohl! Als ich im Januar gereist bin, hatte ich auch echt Heimweh danach. Menschen wie unsere Nachbarn, die Marktfrau und der Empanadabäcker bilden einen Rahmen um unser Leben. Jedoch sind und bleiben wir nunmal eine deutsche Freiwilligen-WG und müssen uns in dieser Hinsicht nicht an die bolivianische Kultur anpassen und erleben auch nicht so viel von ihr, wenn wir nicht selbst aktiv werden.
Bezüglich der Arbeit kann ich sagen, dass ich sehr glücklich bin über das erste halbe Jahr und mich auf die restliche Zeit freue. Auch wenn ich nicht – wie ich es mir wenigstens fürs zweite halbe Jahr gewünscht hätte – morgens im Kindergarten in Chokaya arbeiten kann, sondern im Kindergarten Bella Vista, werde ich das Beste daraus machen. Die Verabschiedung der Kinder vor den Ferien ist mir sehr schwer gefallen, da sie nun in die Vorschule kommen und ich sie nie wieder sehe.
Mir hat die Arbeit mit den Ältesten (vier und fünf Jahre) sehr viel Spaß gemacht, allerdings möchte ich nun noch etwas Neues ausprobieren und werde mit den Zweijährigen arbeiten. Die erste Woche war sehr anstrengend, da nach den Sommerferien (in Deutschland Winterferien) jetzt viele neue Kinder dazukamen und sich erst an den Kindergarten gewöhnen müssen. Es ist unglaublich, wie viel und wie laut diese Kleinen schreien können. Manchmal schlafen sie dann ganz plötzlich zum Beispiel über dem Mittagessen vor Erschöpfung ein.
Oft frage ich mich, wie sinnvoll meine Arbeit ist, wie dringend ich gebraucht werde und ob ich Spuren hinterlasse. Anfangs war ich überrascht, welch gut ausgestattete Räumlichkeiten, Spielsachen und Materialien im Kindergarten vorhanden sind. Auch die Kinder sind einigermaßen ordentlich gekleidet und es gibt keinerlei Spuren von Unterernährung. Es handelt sich um ganz andere Armut, wie beispielsweise die Vernachlässigung der Kinder. Viele werden von ihren Geschwistern großgezogen, da die Eltern viel arbeiten. Mit einhergeht, dass beispielsweise das Zähneputzen sehr vernachlässigt wird und die Kinder schon trotz ihres jungen Alters sehr schlechte Zähne und viel Zahnschmerzen haben. Auch Gewalt an Kindern ist keine Seltenheit. Es kommt vor, dass ein Kind einen Tag lang ganz still ist und wenn man es fragt was los ist, erzählt es unter Tränen, dass es von den Eltern geschlagen wurde. Das macht auch mich immer sehr traurig und betroffen und es fällt mir schwer mit diesen Situationen umzugehen.
Wir Freiwilligen unterstützen die Tias bei ihrer Arbeit – sie würden es jedoch auch ohne uns schaffen – so dass es für sie angenehmer ist und den einzelnen Kindern mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden kann. Außerdem können wir unsere eigenen Ideen einbringen, um so den Alltag für die Kinder interessanter zu gestalten. Des Weiteren kann gesagt werden, dass ein Kulturaustausch stattfindet, da wir die Tias zum Beispiel zu einem deutschen Abendessen zu uns nach Hause eingeladen haben.
Inzwischen hat man sich an die Kulturunterschiede gewöhnt, auch wenn man sie nicht immer nachvollziehen kann. Mein Mitbewohner bekommt auf der Arbeit eine totale Sonderrolle zugeschrieben, nur weil er ein Mann ist. Es hat seine Zeit gedauert bis die Tias uns Mädels auch so freundlich gegrüßt haben wie ihn und weiterhin bekommt er besonders viel Lob für die gleiche Arbeitsleistung.
Natürlich frage ich mich auch, ob und in wieweit ich mich verändert habe und noch verändern werde. Was bringt der Freiwilligendienst mir selbst? Ganz ehrlich, ich glaube, dass größtenteils ich selbst davon profitiere! Ich bin richtig glücklich hier. Das Leben hier ist so unbeschwert. Natürlich liegt das teilweise auch daran, dass kein Prüfungsstress vorhanden ist, wie in der Schule. Ein weiterer Grund ist auch, dass ich mir nicht so Gedanken mache, ob das was ich tue der Norm und den Werten entspricht oder nicht. Das heißt nicht, dass ich ignorant bin, sondern die Menschen hier nehmen viele Dinge einfach viel gelassener. Zum Beispiel gehe ich manchmal mit Jogginghose einkaufen oder fange mit wildfremden Menschen an zu plaudern. Sich zu sechst oder siebt in ein Taxi zu quetschen ist inzwischen total normal geworden.
Natürlich bin ich noch immer die Gleiche, aber ich bin durch das Leben ohne Eltern selbstständiger geworden und lerne mich auch selbst besser kennen, indem ich herausfinde, welche Werte mir wichtig sind. Da alles in Bolivien etwas chaotisch und spontan ist, habe ich gelernt und lerne noch immer, Dinge mehr auf mich zukommen zu lassen und nicht so viel zu planen oder mich auf etwas einzustellen. Das fängt schon im Kindergarten an, wenn uns kurz vorher gesagt wird, dass gleich eine Réunion (Versammlung) stattfindet, anstatt des normalen Kindergartenbetriebs. Obwohl ich inzwischen gut Spanisch spreche und die Dinge viel mehr nachvollziehen kann, als anfangs, bekomme ich jedoch immer wieder zu spüren, dass die Bolivianer ein sehr verschlossenes Volk sind. Ich glaube, dass man noch so gut die Sprache sprechen kann und mit der Kultur vertraut sein kann, man wird immer Ausländer bleiben, einfach weil man anders aussieht. Und trotz dieser zurückhaltenden und etwas skeptischen Haltung fühle ich mich total Zuhause. Ich glaube, dass es sich um Toleranz handelt, die ich hier am meisten lerne: zu akzeptieren, dass ich nie ganz dazu gehören werde und dass es Aspekte in der Kultur gibt, die ich nie richtig nachvollziehen können werde. Auch auf dem Niveau eines niedrigeren Lebensstandards zu leben hat mit Toleranz zu tun. Jeden Tag mache ich die Erfahrung, dass es kein Problem ist meine Kleider von Hand zu waschen, keine Spülmaschine zu haben und dass das Wasser aus der Leitung immer kalt und nicht trinkbar ist. Trotzdem leben wir Freiwilligen für die Umstände hier in sehr wohlhabenden Verhältnissen, denn in den ländlichen Gegenden gibt es selten einen Kühlschrank oder genügend Kleider. Die meisten „Restaurants“ sind nicht liebevoll eingerichtet wie ich es aus Deutschland kannte, sondern praktisch. Ein Tisch und ein paar Stühle herum, wer braucht schon eine Tischdecke oder Blumen? Mir wurde erst in Bolivien klar, dass diese Dinge Luxus bedeuten und es auch sehr gut ohne geht.
Auf meinem Zwischenseminar in Santa Cruz habe ich viel über das vergangene und vor allem über das kommende Halbjahr nachgedacht. Ich möchte nochmal mehr in Bolivien ankommen, indem ich die Bolivianer durch Fragen über ihre Kultur besser verstehen lerne. Außerdem würde ich gerne noch ein größeres Projekt im Kindergarten starten, um meine Spenden einzusetzen und um eine kleine Spur von mir zu hinterlassen. Sonst wünsche ich mir Ruhe, Gelassenheit und Toleranz für meine restliche Zeit hier und mein ganzes Leben.
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