Technisch-technologische Ausbildung in Bolivien – Chancen und Herausforderungen

Technisch-technologische Ausbildung in Bolivien – Chancen und Herausforderungen

von Victor Hugo Rioja Vázquez, Leiter der Berufsschule Sayarinapaj in Bella Vista.

Das Jahr 2020 war, wie in allen Bereichen aufgrund der Einschränkungen durch die Pandemie, auch für die technischtechnologische Bildung verheerend. Oder haben Sie sich jemals überlegt, wie es ist, Schweißerei, Elektroinstallation oder Kochen virtuell zu erlernen? Unglaublich und überraschend.

Bilder aus der Berufsschule Sayarinopaj in Bella Vista/Bolivien

Das Gesundheitsphänomen Covid19 hat uns alle überrascht und führte dazu, dass viele Aktionen und Maßnahmen improvisiert umgesetzt wurden, gänzlich ungeplant und ohne Struktur. Was wohl am häufigsten passiert ist, ist die Virtualisierung der technischen Ausbildung mit Hilfe unterschiedlicher digitaler Plattformen, die im Internet verfügbar sind. Aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen, aber auch fehlender Erfahrungen in der Nutzung dieser Plattformen beim Lehrpersonal und den Auszubildenden, geschah das allerdings nur in begrenztem Maße.

Das Ergebnis: eine hohe Abbrecherquote beziehungsweise Auszubildende, die ihre Ausbildung mit schwachen Praxiskenntnissen abschließen. Die, die es am stärksten getroffen hat, sind wohl die Auszubildenden im dritten Lehrjahr, die aufgrund der Pandemie nicht einmal ihre Praktika in Firmen absolvieren konnten, die einen großen Ausbildungswert haben und für den Eintritt in den Arbeitsmarkt von höchster Bedeutung sind.

Ungeachtet der Widrigkeiten, die Covid-19 verursacht hat, weist die technische Ausbildung in Bolivien bereits seit Jahrzehnten große Mängel auf. Dies war, ist und wird auch weiterhin die Folge fehlender nachhaltiger und kohärenter Politik sein, die es nicht schafft, sich mit dem produzierenden Sektor zu verknüpfen, der die Wirtschaft ankurbelt.

Dies ist aber entscheidend. Wenn es nicht geschafft wird, die Verbindung zwischen technischer Ausbildung und Wirtschaft wirklich herzustellen, bleiben Ausbildungen weiterhin stereotypisiert als Bildungsmöglichkeit für unfähige und unnütze Personen, die es nicht an eine Universität geschafft haben.

Deshalb hängen Herausforderungen und Perspektiven von folgenden Maßnahmen ab:

  • Die Verantwortlichen sollten Normen verabschieden, die es den Instituten ermöglichen, flexible Lehrpläne zu erarbeiten mit minimalen und maximalen Lehrinhalten, die sich sowohl an der geographischen Lage, an den produktiven Neigungen, am Berufswunsch und an den gewünschten Kompetenzen der Firmen bzw. Produktionsstätten orientieren. In einer virtuellen Modalität ist das notwendiger denn je.
  • In der akademischen Planung sollte man Zeiten einplanen, um weiterhin praktische Erfahrungen zu gewährleisten, vorausschauend auf mögliche Einschränkungen durch die Pandemie – zum Beispiel im Juli oder Dezember oder an Samstagen und Sonntagen, wenn die Restriktionen abgeschwächt werden. Es ist wesentlich, im Vorfeld zu planen und auf Maßnahmen zurückgreifen zu können, um nicht überrascht zu werden.
  • Das Bildungsministerium sollte verbindliche Rahmenvereinbarungen mit Unternehmerverbänden treffen, um (Kurzzeit-)Praktika zu sichern und auf diese Weise mit Maßnahmen Anreize zu schaffen, damit die Firmen bereit sind, Auszubildende/Studenten bei sich aufzunehmen und zu orientieren und so die Initiative(n) in den Instituten zu unterstützen.
  • Ausbildungseinrichtungen nach den neuesten Arbeitsmarktstudien mit dem nötigen Material aufbauen und ausstatten und einer angemessenen Ausstattung Priorität einräumen. Zur Zeit gibt es viel großzügige, aber „leerstehende“ Infrastruktur.
  • Wenn die Lernsituation virtuell bleibt, muss kostenloser Zugang zum Internet garantiert werden. Sollte dies nicht geschehen, bleiben ca. 50 % der Auszubildenden marginalisiert und von der Ausbildung augeschlossen. Deshalb ist es auch wichtig, Auszubildende und Lehrpersonal in der Nutzung digitaler Lernplattformen fortzubilden.
  • In dieser Lernsituation ist es wichtig, akademische Begleit- und Kontrollinstanzen zu stärken, um die Qualität der Ausbildung zu sichern. Die Autoritäten tragen hier eine große Verantwortung
  • Auszubildende im dritten Lehrjahr müssen gleich zu dessen Beginn mit ihren Projekten starten. Die Autoritäten sollten hierfür Protokolle sichern, die es erlauben, flexibel mit den Lerninhalten umzugehen, damit die Auszubildenden im Oktober bzw. November ihre Projekte, die sie für den Ausbildungsabschluss benötigen, verteidigen können.
  • Ein großes pädagogisches (Zusammen-)Treffen für den Bereich der technisch technologischen Ausbildung organisieren, das andere Grundlagen festlegt, die direkt aus dem produktiven Sektor und der Wirtschaft kommen.

In anderen Ländern, wie Deutschland, Japan oder der Schweiz (u.a.) gehören technische Ausbildungen zur industriellen und produktiven Entwicklung dazu. Sie verfolgen ein Konzept, das „Duale Ausbildung“ heißt, bei der die Auszubildenden 20 % ihrer Ausbildung an Bildungsinstituten und 80 % in der Industrie erhalten.

  • Um ein solches Konzept einzuführen, bedarf es vor allem eines Umdenkens. Alle Ministerien, nicht nur das Bildungsministerium oder die Ausbilder,sollten an einer Umkonzeptionierung der technischen Ausbildung beteiligt sein. Ich glaube, dass dies in Bolivien möglich ist.
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Der Beitrag von Victor Hugo Rioja Vázquez  ist gedruckt im nationalen Bildungsmagazin PUKARA erschienen. Helmut Schnepf, Vorstandsmitglied von CVE, Berater und Trainer der Internationalen Zusammenarbeit, äußert sich zustimmend zu den Ausführungen Riojas und kommentiert sie wie folgt:

Die Pandemie hat weltweit gerade im Bildungsbereich enorme Probleme verursacht. Dabei müssen wir zwischen den verschiedenen Schularten – von der Grundschule bis zu Universitäten und den technischen Ausbildungsgängen – differenzieren. Die Verfügbarkeit von IT-Netzen und Endgeräten bestimmt zunächst die Möglichkeiten des digitalen Lernens. Aber Hardware und Software sind noch lange nicht alles. Ich frage mich, wie kann z.B. der Theorieanteil einer technischen Ausbildung selbst mit hochmotivierten Lehrkräften aktuell zielführend vermittelt werden? Die neue Situation erfordert Weitblick, laufende Fortbildungen der Lehrkräfte und hohe Investitionen durch die Ministerien.

Treffend dazu beschreibt Rektor Victor Hugo Rioja Vázquez das Dilemma in Bolivien. Das Entscheidende für einen guten Abschluss sind aktuelle Lehrmodule, praktische Trainings, Projektarbeiten in der Schule und hinreichend viele Praktika während der Ausbildung in den Betrieben (das war alles 2020 nicht möglich!).

Überall auf der Welt gibt es hochmotivierte Lehrer, Ausbilder und Schulleiter, die trotz enormer Schwierigkeiten die technische Ausbildung zu verbessern versuchen. Allen diesen Lernprozess-begleitern können wir nur gratulieren und uns für ihren außergewöhnlichen Einsatz bedanken!

Nicht nur Politiker, sondern auch Unternehmer wollen oft nicht verstehen, dass sie alle eine große soziale Verantwortung haben, in junge Menschen und deren Ausbildung zu investieren. Wir sollten aber nicht die Hoffnung verlieren, dass auch politische Führer in Bolivien einmal erkennen, dass es notwendig ist, mit den Unternehmen zusammenzuarbeiten, um viele Talente zu fördern und damit dem wirtschaftlichen Erfolg des Landes einen Dienst zu erweisen. Deshalb ist der Bericht, den Victor Rioja in PUKARA veröffentlicht hat, sehr wichtig, damit viele Menschen den Impuls erhalten, einen Veränderungsprozess anzuschieben und die Situation der technischen Berufsausbildung nach und nach zu verbessern.

Bis dahin ist unsere Berufsschule in Bolivien mit ihrer dreijähigen Ausbildung auf Hilfe durch Spenden für Weiterbildungsangebote und Lehrmaterialien angewiesen.

Gerade jetzt benötigt sie zusätzliche Maßnahmen, um die rund 50 Prozent Abbrecher der Ausbildung wieder einzugliedern, bis die Pandemie wieder einen Normalbetrieb zulässt. Dann werden wir versuchen, ein Konzept zur Qualitätsverbesserung und Nachhaltigkeit – nach internationalem Standard – zu etablieren. Dazu gibt es viele erfolgreiche Beispiele in asiatischen Ländern. Erste Schritte erfolgten schon vor vielen Jahren mit Lehrer-Fortbildungen in „Methoden des kooperativen Lernens“ durch SES-Fachkräfte und Freunde von Cristo Vive Europa.

Vielen Dank an alle Helfer und Förderer,

Helmut Schnepf

 

 

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