Charlotte Korenke war 2013/14 in Chile. In diesem Zwischenbericht erzählt sie wie sie die ersten Monate erlebt hat:
Fast drei Monate ist es jetzt schon her, dass ich nach 30 Stunden Reise an einem fast smogfreien Tag in Santiago ankam und wir mit Unmengen von Gepäck zu sechst auf der Rückbank des Kleinbusses der Fundación Cristo Vive vom Flughafen nach Recoleta in die Quinta Bella gebracht wurden. Hier wohne ich seitdem mit drei Mitfreiwilligen – Eva und Niklas von Cristo Vive Europa und Johanna von Amntena – in der Casa Amistad, dem wohl schönsten und buntesten aller Freiwilligenhäuser. In den letzten zwei Monaten war unser Zusammenleben stark durch einen Unfall geprägt: Als wir vier am langen Wochenende nach dem Nationalfeiertag verreist waren, stürzte vier Meter im freien Fall von einer Mauer und landete auf einer Betontreppe. Nach einer Odyssee durch verschiedene Krankenhäuser und der Busfahrt zurück nach Hause lautete die Diagnose schließlich: 3 angebrochene Wirbel, ein Monat im Bett. Auch für uns Mitbewohner war diese Zeit nicht leicht. Inzwischen geht es Johanna aber viel besser, sie kann wieder halbtags arbeiten und vieles mehr. Die Sorgen bleiben trotzdem.
Arbeiten tue ich im Jardín Infantil Naciente, also im ältesten Kindergarten der Fundación Cristo Vive in Recoleta. Dort werden in acht Salas insgesamt 256 Kinder zwischen zwei und fünf Jahren betreut. Ich selbst arbeite im Nivel Medio Mayor B mit 32 drei- bis vierjährigen Kindern. Mit mir in dieser Sala arbeiten eine Educadora, Cecilia, und zwei Tias técnicos, Jazmin und Alejandra. Außerdem wimmelt der ganze Kindergarten vor angehenden Educadoras, die hier Praktika absolvieren. Eine, Paulina, ist schon seit meiner ersten Woche jeden Tag bis zum Mittagsschlaf da, zwei andere kommen jeden Dienstag.
Der Tagesablauf ist streng durchgeplant und dadurch manchmal etwas eintönig: ab 8:30 können die Kinder kommen und kurz frei spielen, bis die sehr süße Vanille-, Erdbeer- oder Schokomilch kommt. Um 9 Uhr, nach dem Zähneputzen, gibt es einen Morgenkreis. Bis der losgeht, singen Paulina oder ich mit den Kindern. Dann werden Begrüßungslieder gesungen, Wetter und Wochentag abgefragt, danach wird gezählt. Immer noch im Stuhlkreis wird jeden Tag irgendetwas zum Thema „Gesundes Leben“ besprochen, mal geht es dabei ums Zähneputzen, dann wieder darum, dass man Obst und Gemüse essen muss. Auf eine „Actividad física“, die meistens aus Zumbatanzen oder Joggen besteht und oft auch ausfällt, folgt eine größere Actividad. Mal wird gebastelt, mal über verschiedene Tiere gesprochen, dann wieder mehr oder weniger frei gespielt. Bei alledem bestehen meine Aufgaben hauptsächlich darin, die Tias zu unterstützen, den Kindern beim Basteln zu helfen und dafür zu sorgen, dass auch tatsächlich alle von ihnen das tun, was ihnen gesagt wird.
Um 11 geht es für eine halbe Stunde zum Spielen in den Patio. Da gibt es kleine Klettergerüste und Sandspielzeug, allerdings statt Sand nur den Boden, der gerade jetzt bei dem wärmeren Wetter unglaublich staubt. Während der halben Stunde draußen sind wir Freiwilligen besonders gefragt, spielen mit den Kindern Fangen und Verstecken und so weiter. Kinder Huckepack zu nehmen, habe ich mir allerdings relativ schnell abgewöhnt – dafür sind einfach zu viele von ihnen übergewichtig. Danach gibt es Mittagessen, dann wird geschlafen. Betten beziehen kann ich am Ende dieses Jahres sicher in Rekordgeschwindigkeit, genau wie Schuhezubinden. Wobei die Kinder ersteres inzwischen lernen. Weil ein Großteil natürlich nicht schlafen will, setzen wir uns dann zwischen die Matratzen und streicheln solange Rücken, bis doch fast alle schlafen, und gehen ab 12.45 in zwei Schichten zum Mittagessen.
Um 14.30 werden die Kinder wieder geweckt, im Bad gekämmt, gehen für eine weitere halbe Stunde raus, spielen noch einmal draußen an Tischen und bekommen dann wieder Milch mit Zucker und Brot. Danach setzen sie sich in einen Stuhlkreis, bis die Eltern kommen. Währenddessen putzen wir die Sala, die restliche halbe Stunde bis 17.30 sitzen die Tias und ich mehr oder weniger ab.
Was mir gerade am Anfang negativ aufgefallen ist, ist der Umgangston der Tias técnicos, wenn sie mit den Kindern sprechen. Inzwischen sehe ich zwar ein, dass man, damit 32 Kinder einigermaßen hören, ab und zu schreien muss. Aber ich frage mich immer noch, wie die Kinder lernen sollen, bitte und danke zu sagen, wenn mit ihnen fast nur im Imperativ geredet wird, und spreche deshalb, sofern das möglich ist, schon besonders höflich mit ihnen. Außerdem habe ich im Laufe der Zeit gemerkt, dass beide auch unglaublich nett mit den Kindern umgehen können, aber eben nur, wenn sie mit einigen wenigen sprechen. Aber auch ich muss aufpassen, mir das Schreien in der Sala nicht zu sehr anzugewöhnen. Ab und zu ist es natürlich nötig, zu schimpfen oder laut zu reden, aber lange nicht immer.
Im Alltag in der Sala gibt es aber trotzdem noch Punkte, die mich ärgern. Hauptsächlich, dass es oft eine Viertelstunde oder auch länger Leerlauf gibt, die Kinder also im Stuhlkreis sitzen, sich die Tias unterhalten und einfach nichts passiert. Oder auch, dass zur Strafe leicht mal ein Kind in die Ecke gestellt wird, oder, dass ihnen kaum einmal zugehört wird. Natürlich ist es fast unmöglich, auf jedes von über 30 Kindern einzugehen. Versuchen allerdings muss man es, finde ich, trotzdem. Nach leichten Anfangsschwierigkeiten verstehe ich mich dennoch mit beiden Tias ziemlich gut, mit der Praktikantin sowieso. Und ab und zu schaffe ich es auch, den Leerlauf mit Liedern zu unterbrechen.
Die Kinder wirken auf den allerersten Blick unauffällig. Gut, 90 Prozent der Mädchen kommen in
knallpinken Fleecejogginganzügen. Und das erste, was gebaut wird, wenn die Legosteine herausgeholt werden, sind Pistolen. Aber sonst? Je länger ich aber da bin, desto mehr auffällige Verhaltensweisen fallen mir auf: Dreijährige spucken mich an, zeigen mir den Mittelfinger, haben schwarze Schneidezähne, hören überhaupt nicht zu, küssen einander auf den Mund. Je länger ich da bin, desto mehr erfahre ich aber auch über die familiären Hintergründe der Kinder – und da weiß ich noch lange, lange nicht alles. Aber ich weiß zum Beispiel von Vergewaltigungskindern mit unglaublich jungen Müttern. Ich weiß von Müttern, die gerade 21 sind, aber aussehen wie Mitte 30. Von Eltern, die klauen oder drogenabhängig sind. Und von Vätern, die ihre Frauen vor den Augen der Kinder schlagen.
Trotz alledem gibt es aber im Kindergarten auch wunderschöne Momente. Wenn die Kinder mich morgens mit Küsschen und einem strahlenden „Hola, Tia Charlotte“ begrüßen, zum Beispiel. Oder wenn die Zwillinge sich das erste Mal die Schuhe selber anziehen. Wenn der kleine Träumer Said darauf besteht, die Tannenzapfen seien Karotten, und Monserrat erzählt, gestern seien Dinosaurier bei ihr im Haus gewesen. Wenn das Terrorkind seine zärtlichen fünf Minuten hat, der Zappelphilipp einschläft oder einer, der sonst ständig anderen das Spielzeug aus der Hand reißt, fragt: „Tauschen wir?“
Was mir außerdem viel Freude bereitet, sind die vielen Sonderaktionen im Kindergarten. Die gab es einmal zum Dieciocho, also zum Nationalfeiertag im September, der mit Tänzen, Essen und Spielen gefeiert wurde, aber auch sonst. Da führen zum Beispiel ein paar Tias ein Märchen vor, der Geburtstag aller Kinder wird einmal im Jahr groß gefeiert, es gibt einen Ausflug zum Planetarium, eine Demonstration für gesundes Leben rund um den Kindergarten und vieles mehr.
Auch unser erstes größeres Freiwilligenprojekt war eine solche Sonderaktion: Am 11. November haben wir in Kindergarten, Krippe und in der Behinderteneinrichtung Hogar „Dios con Nosotros“, die alle praktisch auf einem Gelände liegen, Sankt Martin gefeiert. Auf Laternen für alle haben wir zwar wegen des warmen und sonnigen Wetters verzichtet, dafür haben wir Freiwilligen die Martinsgeschichte als Theaterstück aufgeführt, Lieder vorgesungen und Stutenkerle für die Kinder gebacken.
Zusammen mit drei anderen Voluntarios, Laura, Hanna und Samuel, habe ich im Kindergarten außerdem einen kleinen Kindergartenchor ins Leben gerufen. Mit jeweils drei Kindern aus den älteren Gruppen, also insgesamt 15 Vier- bis Fünfjährigen, proben wir seit letzter Woche jeden Dienstag für eine Stunde deutsche und spanische Weihnachtslieder, die dann im Advent aufgeführt werden sollen. Dass mit Kindern in dem Alter wenig so läuft, wie man es plant, haben wir gleich beim ersten Mal gemerkt, als zwei Kinder sich geweigert haben, ihre Gruppen zu verlassen, um zu singen, und ein drittes sich unter den Tisch gesetzt hat und nicht wieder herauskommen wollte. Dazu kommt, dass eine Stunde für Vierjährige eine ganz schön lange Zeit ist – eigentlich zu lang, um sich zu konzentrieren. Trotzdem schien ein großer Teil der Kinder Spaß am Singen zu haben und ich bin guter Hoffnung, dass bei ihrem Auftritt zu Weihnachten das meiste klappt.
Nicht nur in unseren Einrichtungen selbst, sondern auch außerhalb sind wir Freiwilligen inzwischen an einigen sozialen Projekten beteiligt, ich an der Arbeit in der „Residencia“ und am Musikprojekt in der Gemeinde San Alberto. Die Residencia ist ein relativ neues Wohnprojekt für ehemals Obdachlose hier in der Quinta Bella, das ich bisher erst einmal besucht habe, wo ich aber in Zukunft alle zwei Wochen abends für ein paar Stunden mitarbeiten möchte. Das Musikprojekt wurde vom Pfarrer der Gemeinde San Alberto, zu der auch Karolines Capilla gehört, initiiert. Einmal in der Woche geben ich und zwei andere Freiwillige seit einigen Wochen den Kindern aus der Población Blockflöten-, Gitarren und Klavierunterricht. Doch auch das läuft nicht ganz so wie geplant: Das erste Mal kamen die ersten eine ganze Stunde nach der von uns angesagten Uhrzeit, das zweite Mal lief alles glatt, in der dritten Woche kam kein Mensch. Wir versuchen jetzt fleißig, Werbung dafür zu machen, ich bin gespannt, wie das weitergeht!
In den letzten Wochen habe ich trotz aller kleinen und größeren Probleme immer mehr das Gefühl, angekommen zu sein. In meinem Stadtviertel fühle ich mich, zumindest tagsüber, wohl und kenne mich aus. Mein Spanisch reicht inzwischen, um mich an Alltagsgesprächen ohne größere Probleme zu beteiligen und die meisten Chilenen in meinem Umfeld im ersten Anlauf zu verstehen. An meinen neuen Alltag hier habe ich mich gewöhnt, im Kindergarten weiß ich, wie der Hase läuft und was dort meine Aufgaben sind. Die Arbeit macht dort mir wirklich Spaß, aber langsam kenne ich die Routine so gut, dass ich mich in der Lage fühle, mich noch mehr selbst einzubringen.
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